Mit Annagemina macht Anna Illenberger den weltläufigsten Pop, den Stuttgart zu bieten hat. Ihr Solodebüt veröffentlicht sie coronabedingt mit Verspätung – und liefert den Soundtrack zu einer Zeit, die womöglich ohne Happy End auskommen muss.

Stuttgart - Es wäre die Rückkehr an den Ort eines Scheiterns gewesen. Im Vorprogramm von Coco Rosie wollte die Stuttgarter Musikerin Anna Illenberger Ende März in den Wagenhallen jenen unangenehmen Winterabend des Jahres 2008 überschreiben, an dem sie sich allein auf die Bühne am Nordbahnhof stellte und „so ziemlich alles schief ging, was schief gehen konnte“. Die Technik spielte nicht mit, erinnert sich Illenberger. Immerhin: „Die Lieder funktionierten“.

 

Außerdem lernte sie damals den Elektromusiker Michael Fiedler kennen, mit dem sie unter dem Namen Annagemina seither den weltläufigsten Pop herausbringt, den Stuttgart zu bieten hat. Den beiden gelingt scheinbar spielerisch der Spagat zwischen tiefen Bässen und sinnlichen Höhen. Und sie vermeiden dabei jene Beliebigkeit, die manchen Bands im Bereich Basspop manchmal anhaftet. Annagemina stochern nicht völlig im Nebel, sondern nehmen den Zuhörer an die Hand und führen in unbekanntes, zumeist eher düsteres Terrain. Dazu treten bei Konzerten opulente Lichtshows und Kostüme samt entsprechender Performance.

Während Annagemina also seit Jahren an ihrer eigenen Definition von elektronischer Popmusik basteln, ließ Anna Illenberger die Idee eines Soloprojekts offenbar nie ganz los. Anfang dieses Jahres hob sie das Projekt Kitz aus der Taufe, nahm sieben ihrer Songs auf, die sogleich auf Vinyl veröffentlicht und in den Wagenhallen performt werden sollten. Dann kam Corona, alles wurde abgeblasen. Aber die Songs sind immer noch da.

Komplizierte Lieder sind das

Ähnlich wie bei Annagemina kommt die Musik bei Kitz aus allerlei Synthesizern und Drumcomputern, wird durch Effektschleifen gejagt und mischt sich unterwegs mit Illenbergers hypnotisch-schwebender Stimme. Das ist schon beim ersten von sieben Stücken auf dem selbstbetitelten Debüt so. „Charms“ beginnt in klassischer Singer/Songwritermanier mit gebrochenen Klavierakkorden und introvertiertem Gesang, der sich über klirrende Soundflächen langsam öffnet, ehe ein unheimlicher Bass, gebrochene Beats und geisterhafte Echos dem Song eine enorme Tiefe geben. Am Ende schließt sich dieses Fenster zum Unheimlichen wieder, man hört das Klavier und Kitz’ Stimme: „I don’t need your House anymore / Let me be Myself“. Auch die verbleibenden Songs auf „Kitz“ loten menschliche Verfasstheiten und die dazugehörigen Klangräume aus. Man bewegt sich hier in einem Bereich der Popmusik, die den Anspruch auf leicht verständliche Songstrukturen und Mitsingrefrains wie selbstverständlich hinter sich lässt. Komplizierte Lieder sind das, die sich stellenweise in sich selbst verhaken und gerade daraus ihre eigene Schönheit gewinnen. Illenberger arbeitet nicht zuletzt mit Annagemina immer wieder für Film und Theater, auch das scheint immer wieder durch.

Das muss man erst einmal aushalten

Die vielfach unbestimmten Stimmungen machen „Kitz“ hörenswert. Man kann dieses Album auch, wiewohl das nicht intendiert war, auf das Hier und Jetzt beziehen. Die weiten, kalten Klangräume, die verätzten Bässe und heruntergedimmten Klangflächen lassen nicht erahnen, ob ein gutes Ende zu erwarten ist. Das muss man erst einmal aushalten.

Das Gleiche gilt natürlich auch für die Künstlerin selbst und ihr jetzt fertiges, aber eben noch zu veröffentlichendes Werk. Anna Illenberger ist in einer Musikerfamilie aufgewachsen, ihr Vater ist der Gitarrist Ralf Illenberger. Sie spürt in ihrer Musik freilich weniger der Virtuosität an einem akustischen Instrument nach als vielmehr den Möglichkeiten elektronischer Klangerzeugung.

Auf ihrem Solodebüt hat sie alles selbst eingespielt und eingesungen. Nicht, dass man das hören würde – es spricht eher dafür, dass sich hier eine talentierte Künstlerin endlich voll und ganz ausdrückt, auch weil sie auf ihrem Instagram-Kanal neben ihrer Musik die dazugehörige Kunst veröffentlicht: bestickte Fotos von sich selbst, Gebäuden, Gegenständen, Alltagsmotiven.

Das Wagenhallen-Konzert mit Coco Rosie fiel der Corona-Pandemie ebenso zum Opfer wie die ursprünglich geplante Veröffentlichung des Albums auf Vinyl – ohne echtes Releasekonzert ist eben auch ein Tonträger zum Anfassen nicht das Wahre. Stattdessen ist das Album eben zeitgemäß im Internet zu hören, samt Video, und zwar von diesem Dienstag an.