Erst einmal muss man den Blick in den Spiegel aushalten, weil die Welt nun mal so ist, wie sie ist. Dann aber muss man den Spiegel, seitenverkehrt, auch lesen können: Damit die Welt doch einmal anders ausschaut als jetzt. Das Schauen kann man von Hegel lernen. Und nicht nur das Schauen.

Stuttgart - Vor 250 Jahren, am 27. August 1770, wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel als Sohn einer württembergischen Beamtenfamilie in Stuttgart geboren. Philosophie gilt nun aber gemeinhin als eine eher spröde Sache, und Hegels Schriften insbesondere geht der Ruf voraus, schwer verständlich und dunkel zu sein. Lohnt es sich, sie noch zu lesen – oder reicht es, beim Small Talk mit den paar Zitaten zu glänzen, die es aus diesem Werk ins Allgemeinbewusstsein geschafft haben: „Das Wahre ist das Ganze“, „die Weltseele zu Pferde“ (womit Napoleon gemeint war) oder die Charakterisierung der Philosophie als „Eule der Minerva“, die erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt?

 

Ein Begriff fehlt in dieser Zitatensammlung, der sich freilich als Schlüssel zu Hegels Werk erweisen könnte: Negativität. Doch der dürfte erst recht viele abschrecken, denn in einer Zeit, in der uns die Lebensratgeber ermahnen, doch bitte „positiv zu denken“ und uns von „negativen Energien“ zu reinigen, erhöht er nicht gerade die Attraktivität von Hegels Denken. Lebensberatung war allerdings seine Sache nicht, für sie hatte er nur Spott übrig: „Die Philosophie aber muss sich hüten, erbaulich sein zu wollen.“ Was Hegel von seinen Lesern verlangt, ist vielmehr die „Arbeit des Begriffs“. Denken ist anstrengend. Der Philosoph behandelt seine Leser nicht wie kleine Kinder, die man an der Hand nehmen muss, sondern als Erwachsene, denen man etwas zumuten kann.

Zeitgenosse der Revolution

Anders als den klassischen Denkern der Antike wie Platon oder Aristoteles geht es Hegel auch nicht um ein zeitloses Wahres, Gutes und Schönes, sondern um eine Diagnose der eigenen Gegenwart. Und die erlebt er als Zeitgenosse der Französischen Revolution als eine Epoche gewaltiger Umbrüche in Politik, Gesellschaft und Kultur, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt, vielmehr die „Furie des Verschwindens“ herrscht. Stärker noch als seine Zeitgenossen Kant, Fichte und Schelling versucht Hegel, die geschichtlichen Tendenzen, die hier am Werk sind, zu verstehen: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken erfasst. Es ist eben so töricht zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit.“

Hinter diesem Zitat (es stammt aus Hegels 1820 veröffentlichter Schrift „Grundlinien der Philosophie des Rechts“) verbirgt sich eine doppelte Polemik: gegen diejenigen, die sich nostalgisch an eine idealisierte Vergangenheit klammern wie etwa das antike Griechenland oder das europäische Mittelalter, und gegen die Zeitgenossen, die sich aus den Turbulenzen der Gegenwart in eine erträumte Zukunft flüchten. In Hegels Diagnose ist diese Haltung, die er bei den Romantikern auszumachen meint, eskapistisch; sie zeugt von der Unfähigkeit, sich auf die Probleme der eigenen Zeit einzulassen und sie auf den Begriff zu bringen.

Was ist das Leben des Geistes?

In der Vorrede zu seinem ersten Hauptwerk, der 1807 publizierten „Phänomenologie des Geistes“, stehen die folgenden programmatischen Sätze: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ Aus dieser „ungeheuren Macht des Negativen“, so lautet Hegels Wette, speist sich die Energie des Denkens. Seine Philosophie wird sie durchbuchstabieren auf allen Feldern, denen sie sich widmet: von der Logik und Erkenntnistheorie über die Anthropologie, Pädagogik, Moral, Gesellschaft und Politik bis zur Geschichte, Kunst und Religion.

Ein berühmter Satz, der dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben wird, lautet: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Dieser Satz ist später als Ausdruck eines skeptischen Bewusstseins interpretiert worden, das daran zweifelt, überhaupt zu gesicherten wahren Aussagen zu gelangen. Hegel freilich deutet ihn anders, macht auf den logischen Widerspruch aufmerksam, der zwischen der Form der Aussage („Ich weiß“) und ihrem Inhalt („dass ich nicht weiß“) besteht. Entweder das Subjekt weiß etwas, dann ist die Behauptung, nicht zu wissen, falsch; oder es verfügt über kein Wissen, dann kann es auch keine Behauptung über sein Nichtwissen aufstellen. Für Hegel besteht die Lösung hier darin, diesen Widerspruch als Motor des Denkens zu nutzen: „Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.“ Dann wird man sich nicht bequem in der skeptischen Position einrichten, denn wenn der Skeptiker seinen Zweifel wirklich ernst nimmt, muss er auch diesen Zweifel noch anzweifeln – und hat ihn damit überwunden, oder wie Hegel gern sagt: aufgehoben.

Auf die verkehrte Welt einlassen

Für das hier demonstrierte Verfahren gibt es in Hegels Werk eine Reihe von Begriffen: „Negation der Negation“, „selbstbezügliche Negativität“, „Dialektik“ oder „spekulatives Denken“. Spekulativ kommt vom lateinischen Wort „speculum“, was so viel wie „Spiegel“ heißt. In einem Spiegel können wir uns sehen – allerdings seitenverkehrt. Um zu erkennen, wie wir wirklich sind, müssen wir diese Verkehrung in unserem Bewusstsein noch einmal umkehren, eine „Verkehrung der Verkehrung“ vornehmen. Nichts anderes meint Hegels Formel von der „Negation der Negation“: Zur Wahrheit gelangen wir nur, wenn wir uns auf die verkehrte Welt einlassen, ihr ins Angesicht schauen und bei ihr verweilen. Das gilt nicht nur für die Logik, sondern auch für die aus den Fugen geratene verkehrte Welt, der sich die Zeitgenossen der Französischen Revolution gegenübersahen. Namen für diese verkehrte Welt gibt es viele: das Böse, der Terror der Revolution, der Pöbel, das Hässliche, der Tod Gottes am Kreuz. Die Stärke von Hegels Denken besteht darin, diese unangenehmen Dinge nicht zugunsten des zeitlos Wahren, Guten und Schönen beiseitezuschieben, sondern sich ihnen auszusetzen und in ihnen das zu entdecken, was über sie hinausweist.

Das Böse also. Philosophen und Theologen hatten es bisher meistens vom Guten her gedeutet, als Mangelzustand, als Sündenfall. Hegel verfährt genau umgekehrt: Am Anfang war nicht das Gute, sondern ein Zustand der Unschuld, von dem Hegel ziemlich verächtlich spricht: „Unschuldig ist daher nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes.“ Er kritisiert die Position der pietistischen schöne Seele, die ständig über die Übel der Welt klagt und sie moralisch verurteilt, aber sich die Hände nicht schmutzig machen will. Denn Handeln heißt: schuldig zu werden. Dieses Schuldigwerden ist notwendig, damit überhaupt der moralische Prozess in Gang kommt, an dessen Ende erst das Gute steht: als Strafe, die den Verbrecher mit der eigenen Schuld konfrontiert und sie damit aufhebt – oder als Vergebung. Wenn Hegel über den Sündenfall sagt, er sei „der Giftbecher, aus dem der Mensch sich Tod und Verwesung trinkt, und zu gleicher Zeit der Quellpunkt der Versöhnung“, dann folgt er damit dem Kirchenvater Augustinus und dessen Lehre von der „felix culpa“, der glücklichen Schuld.

König oder Bettler – kein Unterschied

Und wie steht es um die „Terreur“, also die Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution? In der „Phänomenologie des Geistes“ gibt es ein berühmtes Kapitel, das mit „Die absolute Freiheit und der Schrecken“ überschrieben ist. Hegel beschäftigt sich hier damit, wie die Revolution ihre Ziele der Freiheit und Gleichheit aller Bürger durchsetzen wollte. Das Fallbeil der Guillotine macht keinen Unterschied zwischen einem König und einem Bettler, vor ihm sind tatsächlich alle gleich – nur eben gleich tot. So lässt sich kein Staat machen, die Revolution richtet sich am Ende nicht nur gegen die schlechten Verhältnisse, sondern gegen sich selbst, hebt sich selbst auf. Dennoch muss für Hegel der nachrevolutionäre Staat diesen absoluten Nullpunkt als Teil seiner Geschichte einmal durchschritten haben, um dann die Unterschiede unter seinen Bürgern wieder zulassen zu können, weil sie die vernünftige funktionale Differenzierung einer arbeitsteiligen Gesellschaft repräsentieren.

Schließlich der Tod Christi am Kreuz. In seiner Religionsphilosophie beschreibt Hegel die Geschichte der Religion als Abfolge verschiedener Stadien, die mit Magie und Mythos beginnt und dann über die Religion des Lichts bei den Persern, die Religion des Rätsels bei den Ägyptern und die Religion der Schönheit bei den Griechen schließlich im (protestantischen) Christentum ihre Vollendung erreicht. Dem Christentum kommt diese herausragende Stellung für die weitere geschichtliche Entwicklung bis hin zur Moderne zu, weil es die Religion bis zu dem Punkt vorantreibt, an dem sich Gott selbst negiert: indem er Mensch wird und stirbt. „Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist.“ Negation der Negation bedeutet hier, dass im sterbenden Gott am Kreuz der Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits, Zeitlichem und Ewigen aufgehoben ist: Gott ist nicht mehr der ferne unerreichbare Ganz Andere, sondern einer wie wir. Die Philosophie muss, so Hegel, diese religiöse Erfahrung nur noch in ihre eigenen Begriffe übersetzen, nämlich „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart“ erkennen.