Hans-Jürgen Stritter, Erster Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Marbach-Bottwartal, und seine Frau initiierten eine Demenz-Allianz. Ihr Ziel: Informationen und Aktionen zu bündeln, um Betroffene der Krankheit wie Angehörige aktiv und bestmöglich zu unterstützen.
Manchmal wussten wir nicht weiter – und weinten Rotz und Wasser.“ Hans-Jürgen Stritter, Erster Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Marbach, schildert offen, wie es war, als Anfang der 2000er-Jahre die Mutter seiner Frau Ines an Demenz erkrankte – und hernach seine eigene. Damals lernte das Paar die Selbsthilfegruppe von Frank Kruse, Altenhilfe-Fachberatung im Landratsamt Ludwigsburg, kennen. „Wir merkten, wie wichtig solche Angebote sind“, so Stritter. Was das Paar dazu bewegte, sich selbst für das Thema Demenz zu engagieren und etwa einen Gesprächskreis für Angehörige von Menschen mit Demenz zu konzipieren. Doch wo durchführen?
Da half ein Nachbar, ein Mitglied der AWO Marbach-Bottwartal. Dort wurde just ein neuer Vorstand gesucht. Und so kam Hans-Jürgen Stritter nicht nur zu Räumen für sein Projekt in Marbach, das sich 2019 zur demenzfreundlichen Kommune aufmachte. Er kam auch zum AWO-Vorsitz. Im Frühjahr 2022 dann gründeten die Stritters mit anderen die AWO Demenz-Allianz Marbach–Bottwartal. Über sie werden zweimal monatlich die Gespräche organisiert, bei denen Fachleute aus Pflege, Medizin, Neurologie, Optik und Hörakustik zu Gast sind, um über den aktuellen Stand der Forschung und Tipps für den Alltag zu sprechen. Auch die jährliche „Woche der Demenz“ veranstaltet die Allianz, Lesungen, Benefizveranstaltungen und mehr – auch mit Institutionen vor Ort, etwa der Stadtbücherei Marbach oder dem Bürgertreff. „Es geht darum, Informationen und Aktionen zu bündeln, um Betroffene wie Angehörige, deren ‚Batterie‘ oft auf rot steht, bestmöglich zu unterstützen.“
Die Gesellschaft sensibilisieren
Ins Boot der Allianz holte er zuvor die Bürgermeister aus Affalterbach, Benningen, Erdmannhausen, Großbottwar, Marbach, Murr, Oberstenfeld und Steinheim bei einem „Brezel-Frühstückle“ in den AWO-Vereinsräumen. Die Schultes lauschten Stritters Ideen und einem Vortrag von Sabine Fels, Alzheimer-Gesellschaft Baden-Württemberg e.V. Stuttgart. Die Projektleiterin „Demenz und Kommune“ thematisierte etwa das Zusammenspiel von Gemeinden und betroffenen Personen. „Wir streben eine breite Sensibilisierung für das Thema Demenz in der Gesellschaft an.“ Man wolle Aufmerksamkeit generieren sowie vernetzte Strukturen verschiedener Akteure aufbauen, um schnell und gezielt Hilfe leisten zu können.
Das gesellschaftliche Bild von Demenz sei geprägt von einer sehr späten Phase der Erkrankung. Tatsächlich beginne diese aber schon zu einem viel früher. „Da nimmt das Denk- und Erinnerungsvermögen ab, ist das Orientierungsvermögen beeinträchtigt, zum Teil auch die Sprachfähigkeit“, erklärte sie. Auch tiefgreifende Persönlichkeitsveränderungen wie plötzliche Traurigkeit und Zorn träten auf. Der Alltag könne zunehmend nicht mehr bewältigt werden.
Vor vier Jahren nach Marbach gezogen
Stritter nickt. „Auch das persönliche Umfeld der Erkrankten erlebt dadurch oft tiefgreifende Veränderungen. Das haben wir selbst erlebt.“ Denn würde mittlerweile über andere Krankheiten selbstverständlicher gesprochen, sei das bei Demenz längst nicht der Fall. „Da existiert nach wie vor ein Tabu. Wir wollen das Thema in der Öffentlichkeit präsenter machen. Mehr Menschen sollten über Demenz Bescheid wissen, die Gesellschaft muss offener mit dem Thema umgehen“, so der gebürtige Stuttgarter, der später nach Oberstenfeld und vor vier Jahren nach Marbach zog.
Für sein Engagement bringt der 76-Jährige aus seinem einstigen Berufsleben gute Nerven, Organisationstalent und viel Wissen mit – über Rechner, Daten und deren Schutz. Als selbstständiger Spezialist für EDV, also Elektronischer Datenverarbeitung, sowie Betriebswirtschaftler unterstützte und beriet er Wirtschaftsprüfungsfirmen, Staatsanwaltschaften wie andere in Sachen Datensicherung und Computerkriminalität. IT-Audits nahm er zudem ab, bewertete die Infrastruktur, Systeme, Richtlinien und Verfahren von Unternehmen nach deren Effektivität. „Damals wie heute geht es um die Frage, ob Firmen wissen, wie wertvoll ihre Daten sind“, so Stritter.
Als wertvoll sehen auch so manche Prominente die Demenz-Allianz, die unter anderem über die Pflegekasse der AOK Baden-Württemberg mit Mitteln der regionalen Netzwerkförderung unterstützt wird. Eric Gauthier, Chef der Theaterhaus-Kompanie Gauthier Dance und Sohn des kanadischen Alzheimer-Spezialisten Serge Gauthier, hat sich für deren Arbeit schon ins Zeug gelegt. Der Musiker George Bailey ist bei Veranstaltungen dabei. Und als Schirmherrin fungiert die promovierte Psychologin, Liedermacherin, Autorin und Demenz-Expertin Sarah Straub. Sie gibt für die Allianz Konzertlesungen in der Region, bietet eine Online-Sprechstunde zu Demenz an. Auch einige Bürgermeister bringen sich ein, werben etwa dafür bei Apotheken und Arztpraxen ihrer Kommunen.
Durch all das seien Menschen auf den Gesprächskreis aufmerksam geworden, so Stritter. „Zu uns kommen auch Betroffene aus Ulm, Rastatt oder Binzen.“ Letztere Gemeinde liegt im Landkreis Lörrach. Um das Netzwerk der acht Kommunen mit 95 000 Bewohnerinnen und Bewohnern zu erweitern, sollen weitere Kooperationspartner gefunden werden aus Praxen, Pharmazie, Optik, Psychotherapie, Physiotherapie und Unternehmen. Hans-Jürgen Stritter konzipiert dazu stets neue Ideen, will etwa das bayerische Qualitätssiegel „Demenzfreundliche Apotheke“ auch für Baden-Württemberg. Und er plant einen Gymnastik- und Gedächtnistrainings-Kurs sowie mit dem Nabu Spaziergänge für Menschen mit Demenz und Angehörige.