„Jede Zeit bringt die Krankheit hervor, die zu ihr passt.“ Dieses Zitat des Kulturhistorikers Egon Friedell nannte der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer bei einem Vortrag zum Thema Demenz in Bad Cannstatt

Bad Cannstatt - Die vor anderthalb Jahren ins Leben gerufene Initiative „Demenzfreundliches Bad Cannstatt“ gewinnt Kontur – und eine Basis, die in eine „Form der Verstetigung“ führen soll, wie der Bezirksvorsteher Bernd-Marcel Löffler bei der Begrüßung einer bestens besuchten Veranstaltung zum Thema Demenz im Versammlungssaal des Bezirksrathauses erklärte. So wurde bei der Gelegenheit auch die Gründung eines Stiftungsfonds bekannt gegeben, in Anwesenheit von Vertretern jener Institutionen, die als Erste eine Einlage in Höhe von 1000 Euro gezeichnet hatten: die Gips-Schüle-Stiftung aus Cannstatt, die sonst vor allem wissenschaftliche Aktivitäten fördert, die Caritas-Gemeinschafts-Stiftung, die Anna-Haag-Stiftung sowie die Bürgerstiftung Stuttgart und die Volksbank Bad Cannstatt.

 

Zum Grübeln verleiten

Danach galt die ganze Aufmerksamkeit einem Querdenker der Thematik, dem Gießener Soziologen und Theologen Reimer Gronemeyer, der seinem Ruf, an Denkroutinen zu rütteln, voll gerecht wurde. Schon damit, wie er seinen Vortrag ausflaggen ließ: „Demenz ist (k)eine Krankheit“. Gronemeyer sollte also mit seinem in freier Rede gehaltenen Vortrag nicht auf sicheres Terrain führen, schon gar keine abhakbare Handreichung zum Umgang mit dementen Menschen liefern. Vielmehr wollte er „zum Grübeln verleiten darüber, was Demenz ist“.

Dazu umriss er einen kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Horizont, den er mit einer Provokation eröffnete, einem Zitat des Kulturhistorikers Egon Friedell: „Jede Zeit bringt die Krankheit hervor, die zu ihr passt.“ Insofern ist ihm Demenz auch „ein Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft, in der wir leben“. Wir seien eine Gesellschaft des Vergessens, immer mehr Wissen und Gedächtnis werde „auf Festplatten ausgelagert“, verbunden mit der „Auswanderung aus den sozialen Milieus“ und dem Leitbild des sich selbst optimierenden Individuums in der Leistungsgesellschaft. In einem solchen Umfeld erschienen Demente ähnlich wie Flüchtlinge, So Gronemeyer. Nämlich als „Fremde, die an den Rand gedrängt werden, möglichst unsichtbar“. Mit Phänomenen wie „80-Jährige auf dem Surfbrett“, Kreuzfahrtschiffen als „schwimmenden Pflegeheimen“ oder andere „Senioren-Disneylands“. Und immer wieder fragte Reimer Gronemeyer: „Was passiert da?“

Das Alter mit seiner Schönheit begreifen

Die Menschen hätten es verlernt, alt sein zu dürfen und auch das Alter mit seinem eigenen Wert und seiner Schönheit zu begreifen. In der Folge werde alles, was Verwirrtheit, also Imperfekt-Sein signalisiere, mit der Diagnose Krankheit versehen. So wundere es ihn nicht, „dass in unserer Gesellschaft die Zahl der Menschen wächst, die ihren Verstand an der Garderobe abgibt“. Gronemeyer bestritt nicht, dass die Diagnose „demenzkrank ihre medizinische Richtigkeit haben kann“. Ihm gehe es darum, für einige Augenblicke die Perspektive zu wechseln und so darauf aufmerksam machen, dass „Altersschwäche zur Conditio humana, zum Menschsein gehört“.

So empfahl er, „die Ohren aufzusperren, um zu begreifen, was uns verwirrte Menschen sagen“. Falsch sei es, das Verhältnis zu Dementen als ein Verhältnis von Versorgten und Versorgenden zu verstehen. Es gehe um ein Miteinander und um Aufmerksamkeit. Als Beispiel brachte sich der Referent, Jahrgang 1939, selbst ins Spiel – am Fall eines Straßenbahnfahrers, der ihm an einem Automaten aus der Bredouille geholfen hatte: „Wenn Sie es so verstehen, sind Sie als demenzfreundliches Cannstatt auf einem guten Weg.“