Immer mehr Menschen erkranken an Demenz. Wie die Lebensbedingungen für sie und ihre Angehörigen verbessert werden können ist Thema des Projekts Demenzfreundliches Bad Cannstatt. Jochen Ostertag von der Caritas koordiniert die Arbeitsgruppen und deren nächste Schritte.

Bad Cannstatt - Wie die Lebensqualität Demenzkranker und deren Angehöriger verbessert werden kann, das steht im Mittelpunkt des Projektes Demenzfreundliches Bad Cannstatt. Über den Stand der Dinge und die nächsten Schritte spricht Jürgen Ostertag, der Projektkoordinator bei der Caritas, im Interview.

 
Herr Ostertag, ist Demenz ein vergessenes Problem?
Vergessen ist das falsche Wort. Alle haben es irgendwie im Blick und wissen, dass eine Welle auf uns zurollt. Aber was vielleicht bisher vergessen wurde, ist zu handeln. Die Tragweite und Größenordnung ist vielen noch nicht bewusst.
Wie viele sind denn in Stuttgart und Bad Cannstatt betroffen?
Eine genaue Zahl gibt es nicht. Die circa 7000 Betroffenen, die immer wieder von der Aktion Demenz genannt werden, sind eine reine Schätzung. Aber wir wissen, dass es immer mehr werden. Je älter die Menschen werden, umso mehr entwickeln eine Demenz, das ist ein statistischer Zusammenhang. Genaue Zahlen gibt es nicht. Klar ist aber: Es wird nicht genug Betreuungsplätze geben, um alle Betroffenen in einem Heim unterzubringen. Das wäre zu teuer, und die meisten möchten auch gern in ihrem angestammten sozialen Wohnraum bleiben, wo sie sich auskennen, zumal wenn die Verwirrung zunimmt. Wir müssen schauen, wie Menschen möglichst lange in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können.
Was sind die größten Probleme im Alltag von Betroffenen und Angehörigen?
Die meisten Demenzkranken werden zuhause betreut. Das größte Problem wird sein, dass es bei vielen gar keine Angehörigen mehr geben wird bei den ganzen Single-Haushalten. Und für die betreuenden Angehörigen ist es eine eminente Anstrengung. Sie müssen einen Menschen betreuen, der sie möglicherweise nicht mehr erkennt, müssen auf Aggressionen reagieren und mit emotionalen Schwankungen umgehen oder die Tür abschließen.
Wohin können sich Betroffene und Angehörige in Bad Cannstatt wenden, die Hilfe brauchen?
Da ist Stuttgart einzigartig, da es einen speziellen gerontopsychiatrischen Beratungsdienst gibt, kurz Gerbera. Die Dienste sind an die acht gemeindepsychiatrischen Zentren angedockt und kümmern sich um ältere Menschen mit psychischen Störungen. Allerdings kommen die Kollegen kaum mehr nach; oft rufen die Angehörigen sie erst an, wenn die Hütte brennt und sie nicht mehr können. Das werden die Fachdienste irgendwann nicht auffangen können, da muss zusätzliche Hilfe in der Bürgerschaft organisiert werden.
Was kann Gerbera für Hilfe geben?
Die Kollegen beraten und organisieren die Hilfe, schalten zum Beispiel einen Pflegedienst ein oder kümmern sich um einen Kurzzeitpflegeplatz.
Wie kann es aufgefangen werden, wenn die Hilfe durch Gerbera nicht mehr ausreicht?
Ich bin inhaltlich kein Experte für Demenz. Aber in vielen Vorgesprächen mit Institutionen in Bad Cannstatt, die ich vor dem Projektstart geführt habe, haben sich Themenbereiche herauskristallisiert. Zunächst geht es darum zusammenzustellen, wo Rat und Tat gefunden werden kann. Zweitens ist es wichtig, Hilfen im Wohnumfeld zu organisieren. Da sind zum Beispiel die Baugenossenschaften mit im Boot, die SWSG hat etwa schon eine Handreichung für Hausmeister. Es sollen konkrete Hilfen statt moralischer Appelle gegeben werden. Außerdem sollen Hilfen optimiert und zusammengeführt werden, damit man zum Beispiel auch im Hallschlag weiß, was im Espan getan wird, sowohl im professionellen als auch im ehrenamtlichen Bereich. Das vierte Themengebiet ist, für die Erkrankung und den Umgang mit den Betroffenen zu sensibilisieren, indem zum Beispiel Mitarbeiter von Banken oder Supermärkten geschult werden. Noch ist nichts fertig, zu jedem Themenbereich wurde zunächst eine Arbeitsgruppe gebildet. In jeder Gruppe arbeiten zehn bis zwölf Mitglieder aus Organisationen und Angehörige zusammen an Lösungsmöglichkeiten.
Wie ist das Projekt entstanden?
Das Projekt Demenzfreundliches Bad Cannstatt entstand aus dem gerontopsychiatrischen Dienst heraus. Eine Kollegin sagte mir, dass etwas getan werden muss. Die Fallzahlen steigen jährlich um circa acht bis zehn Prozent. Da muss etwas passieren. Klar war, dass man den ganzen Stadtteil mitnehmen muss, um etwas zu erreichen. Zunächst fehlte allerdings das Geld für die Umsetzung. Nun finanziert die Caritas drei Jahre lang meine halbe Stelle als Projektkoordinator. Danach soll sich das Erarbeitete verselbstständigen.
Waren Sie zufrieden mit der Auftaktveranstaltung, die kürzlich im Kursaal stattfand?
Ja, sehr. Es waren circa 80 Personen da, von denen die meisten in die vier Gesprächsrunden gegangen sind und auch danach wieder zurückkamen ins Plenum. Die meisten haben sich gleich verpflichtet, in einer der Arbeitsgruppen mitzuarbeiten.
Wie geht es nun weiter?
Wir haben eine Steuerungsgruppe gebildet, in der unter anderem die Bürgerstiftung Stuttgart, die Breuningerstiftung, der Bezirksvorsteher und das Anna-Haag-Haus dabei sind. Diese Gruppe hat gemeinsam die Auftaktveranstaltung vorbereitet. Außerdem wurden Moderationsteams gebildet, immer zwei Personen moderieren gemeinsam eine Gruppe. Die Moderatoren legen Termine fest und kümmern sich um Räume für die Treffen. Am 14. April wird es noch einmal eine größere Veranstaltung geben, bei der Ergebnisse zusammengetragen und analysiert werden.
Es gibt schon Stadtbezirke wie zum Beispiel Wangen, die Ähnliches gemacht haben. Was hat sich da getan, können Sie davon lernen?
Wir lernen alle gemeinsam. Über die Aktion Demenz tauschen sich alle aus. Gelernt habe ich in Wangen zum Beispiel, wie wichtig es ist, den Bezirksvorsteher und die Stadt im Boot zu haben. Da Bad Cannstatt gut zehnmal so viele Einwohner hat wie Wangen, wird es wichtig sein, alles in die Quartiere herunterzubrechen und kleinteilige Aktionen und Verbindungen zu schaffen.
Wer die Auftaktveranstaltung verpasst hat – kann man sich trotzdem noch engagieren?
Natürlich. Ich stehe mit offenen Armen hier. Je mehr, desto besser. Wer wenig Zeit hat, kann das Projekt auch finanziell mit einer Spende an die eigens gegründete Caritas-Stiftung Bad Cannstatt unterstützen.
Das Gespräch führte Annina Baur.

Person und Projekt

Jochen Ostertag
: Der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut ist gebürtiger Untertürkheimer, lebte lange in Wangen und nun in Hedelfingen. Seit zehn Jahren arbeitet der 55-Jährige für die Caritas in Bad Cannstatt und koordiniert das Projekt Demenzfreundlicher Stadtbezirk.

Projekt
: Weitere Informationen stehen im Internet unter www.caritas-stuttgart.de und www.caritasstiftung-stuttgart.de. Wer Fragen hat oder sich engagieren möchte, kann sich an Jochen Ostertag wenden (E-Mail j.ostertag@caritas-stuttgart.de, Telefon 52 04 60 60).