In keinem Jahr sind in Deutschland so viele Kinder auf die Welt gekommen wie 1964. Heute, fünfzig Jahre später, stützen sie – am Höhepunkt ihrer Arbeitskraft angelangt – mit den anderen geburtenstarken Jahrgängen die Gesellschaft. Für die Nachgeborenen nicht unbedingt Grund zum Feiern.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Wie war das noch, als wir geboren wurden? Der erste Weg der Recherche führt zum babyblauen Album, das die Mutter damals gewissenhaft angelegt hatte. Aufschrift: „Unser Kind“. Es ist prall gefüllt: mit der Geburtsanzeige im „Kreisblatt“, mit vielen Schwarz-Weiß-Bildern und wenigen rotstichigen Farbfotos, mit Haarlocken, bräunlichen Zeitungsschnipseln über Kindergartenfeste und dergleichen.

 

So in etwa war das damals. Ziemlich bescheiden nahm uns die Menschheit 1964 in Empfang – gewöhnlich noch in Gestalt einer Hebamme. Trotz der schlichten Lebensverhältnisse dominierte die Zuversicht. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Bundesrepublik und die DDR in jenem Jahr zusammen auf weit über eine Million Geburten, genau 1 357 304, kamen. 1964 war die Krönung der Babyboomerphase. Nie wurden in einem Jahr mehr Kinder in die Welt gesetzt. Von da an verlief die demografische Kurve zunächst steil, dann sanfter abwärts. Für 2012 verzeichnen die Bundesstatistiker nur noch halb so viele Geburten, nämlich 673 544.

In Deutschland hatte der Boom Mitte der fünfziger Jahre eingesetzt, später als in Nachbarländern wie etwa Frankreich. Die Männer der Verlierermächte mussten erst aus der Gefangenschaft zurückkehren, und die Frauen waren direkt nach dem Krieg noch mit der Beseitigung der Trümmer beschäftigt. Schon damals gab es daher viele Spätgebärende, wenn auch eher unfreiwillig und nicht aus freien Stücken wie heute.

Neuer Lebensmut im Wirtschaftswunder

Die Wirtschaftswunderjahre hatten den Menschen eine Perspektive gegeben. So geschah – aus Sicht eines Wissenschaftlers – das Unvermeidliche. Stets, wenn sich die Menschen wegen eines Kriegs oder einer Krise bei der Fortpflanzung zurückhalten, stellen sich danach die Nachholeffekte ein. „Die Delle nach unten wird im Anschluss immer durch die Delle nach oben kompensiert“, sagt Reiner Klingholz, der Chef des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. So hätten die Frauen vorher vielleicht mit 25 Jahren das erste Kind bekommen und nach dem Krieg erst mit 30 Jahren. Ähnliches sei nach der Wende in Ostdeutschland zu beobachten gewesen, und Ähnliches deute sich nun in den Krisenländern Südeuropas an.

Das Gefühl, nie allein zu sein, hat uns ein Leben lang begleitet. Bei der Einschulung durften wir froh sein, eine eigene Tischhälfte zu ergattern. Auf dem Konfirmationsfoto versammelten sich gleich 64 Jugendliche. Bei der Abiturfeier wollte die Verleihung der Urkunden kein Ende nehmen, weil mehr als 120 Schüler zu verabschieden waren. Die Hörsäle der Universität platzten aus allen Nähten; das Proseminar glich einer Vorlesung. Glücklich war, wer einen Ausbildungsplatz erhielt. Und auch auf dem Arbeits- wie dem Wohnungsmarkt galt: stets übertraf die Nachfrage das Angebot. Wo wir waren, war es immer schon voll.

Im Glauben des lebenslangen Vorruhestands

Gemessen an der heutigen Skepsis der Gesellschaft mag es überraschen, dass die Babyboomer trotz der starken Konkurrenz nicht in Zukunftsängste verfallen sind. Es gab Anlass zu Optimismus: Die Menschen kamen zu immer mehr Wohlstand, mussten dafür aber weniger arbeiten. Wegweisende Tarifabschlüsse zur Einführung der 40-Stunden-Woche wurden Mitte der sechziger Jahre getätigt. „In dieser Zeit ist auch das Denken entstanden, dass es für jede Situation ein soziales Netz gibt und dass im Grunde nichts passieren kann“, sagt Klingholz. „Man hat fortan im Glauben des lebenslangen Vorruhestands gelebt.“

In den Jahren 1966/1967 erlebte die Wirtschaft eine Rezession. Die Arbeitslosigkeit wuchs – aber das war uns egal. Als Kleinkinder bekamen wir davon nichts mit. Unser soziales Netzwerk war die Wohnsiedlung. Das Leben war real, nie virtuell. Mangels Spielkonsolen gingen wir am frühen Nachmittag hinaus zum Toben und kamen erst bei Anbruch der Dunkelheit heim. Es fand sich immer jemand, um die Nachbarn zu ärgern. Straßenfußball war möglich, weil genügend Kinder unter freiem Himmel spielten, obwohl die Straßen noch nicht als verkehrsberuhigte Zonen ausgewiesen waren.

Der Kalte Krieg ließ uns kalt

Gut behütet sind wir aufgewachsen – in relativer Sorglosigkeit. Dass uns Widrigkeiten der Zeit wie der Kalte Krieg kalt ließen, lag auch an den zumeist intakten Familienstrukturen. Die Familie war wie ein Schutzschirm gegen Einflüsse von außen. Die Statistik sagt, 1964 kamen 80  631 uneheliche Jungen und Mädchen zur Welt. Im Jahr 2011 hingegen hatten bereits 224 744 Neugeborene, das heißt jedes dritte Kind, Eltern ohne Trauschein. Die Familie hat den hohen Stellenwert von damals verloren.

Zugleich war unsere Freizeit noch nicht strikt durchgetaktet mit Klavierunterricht, Sportverein und Nachmittagsschule. Niemand trieb uns unentwegt zur Leistung an, weshalb wir auch nicht ausgebrannt und mit Verdacht auf Depression beim Jugendpsychologen landeten. Dass wir wenig luxuriös lebten, hat uns nicht gestört – wir kannten es ja nicht anders. Schon eine Kiste Orangensprudel galt im Kindesalter als willkommenes Geburtstagsgeschenk. Das Trikot des Lieblingsclubs hat die Mutter genäht. Bescheidenheit war eine Notwendigkeit, keine Tugend. Erst Konfirmation oder Kommunion brachte später, was für viele ihr Hauptzweck war, genug Deutsche Mark für die Stereoanlage – dies war der Beginn der Konsumorientierung.

Zwischen „Hitparade“ und „Disco“

So in etwa war das damals. Musikalisch wurden wir von der „Hitparade“ mit dem Schnellsprecher Dieter-Thomas Heck im „Zett! Dee! Eff!“ sozialisiert. Die Schlagerphase ging direkt in die Popmusikphase über. Dies war der Sendung „Disco“ zu verdanken, die vom Jungmoderator Ilja Richter in Anzug und Krawatte präsentiert wurde – mit Gentlemanhabitus, wie er heute sagt. „Licht aus! Womm! Spot an! Jaaa!“ – „Einen wunderschönen Abend, meine Damen und Herren, hallo Freunde!“ – „Hallo Ilja!“. In dem Buch „1964“ des Journalisten Jochen Arntz hält Ilja Richter den Nostalgikern einen Spiegel vor. Die Verklärung der siebziger Jahre sei ein Weg, die eigene Jugend zu verarbeiten, moniert er. Denn „der Mensch ist ein sentimental zurückblickendes Tier“. Der noch heute begeisterte „Disco“-Fan sei im Grunde nur vom Blick zurück auf sich selbst begeistert – „weil der Mensch so am besten durchkommt“. Richters nüchterner Ratschlag: „Man sollte das Ganze nicht so sehr romantisieren.“

Mal abgesehen von den gefürchteten Diaabenden mit Bekannten – besonders das Fernsehen lieferte den Stoff nachhaltiger Erinnerungen an jene Zeit, obwohl oder vielleicht gerade weil man nicht so lange davorhockte – und weil Fernsehen noch ein familienumspannendes Ereignis war. Clarence, der schielende Löwe aus „Daktari“, „Bonanza“ und die „Leute von der Shiloh Ranch“ flimmerten noch in Schwarz-Weiß ins Wohnzimmer. Dabei hatte Willy Brandt das Farbfernsehen schon 1967 freigeschaltet. Später fanden alle – nun in bunt – Hänschen Rosenthals Luftsprünge spitze (weil das Original stets besser ist als die Billigkopie) und fieberten kollektiv bei der Schmierseifen-und-Schwimmbad-Show „Spiel ohne Grenzen“ mit. 1974 bescherte Gerd Müllers Drehschuss den Deutschen den WM-Titel und den damals Zehnjährigen die pure Glückseligkeit.

Mit den Bee Gees im elterlichen Partykeller

Wer dann im Gymnasium auf sich hielt, wagte sich aufs Tanzschulenparkett, wobei die Fülle des Jahrgangs dort dazu führte, dass einerseits bei den hübschesten Mädchen großer Andrang herrschte und andererseits niemand ohne Partnerin blieb. Wir bahnten keine Dates über What’s App an, sondern trafen uns auf Klassenfeten, wo wir zu Musik von Abba oder den Bee Gees durch holzverkleidete Partykeller hüpften. In der Klasse hörten vier Jungs auf den Namen Matthias. Statistisch noch weiter verbreitet waren Thomas, Michael, Andreas und Stefan, während bei den Mädels die Sabine-Susanne-Martina-Andrea-Petra-Woge durch die Schulen schwappte. Meist trugen sie füllige Frisuren und Schlaghosen.

Was die aufmüpfigen „68er“ noch heftig erregt hatte, Spießigkeit und Kleinbürgerlichkeit vor allem, gab den Babyboomern so etwas wie eine Nestwärme. Politik berührte uns Kinder allenfalls in den dramatischsten Momenten: als die RAF die Republik mit ihrem Terror überzog oder als die Palästinenser israelische Olympioniken in München massakrierten. Dass die DDR die Verwandten jenseits des Eisernen Vorhangs quasi in Plattenbauten einsperrte, fanden wir traurig, zugleich verstärkte es die Verbindung. Zu Weihnachten gab es behäkelte Kleiderbügel aus Thüringen.

Autofreie Sonntage statt Vergangenheitsbewältigung

Die wegen der Ölkrise 1973 von Kanzler Willy Brandt verhängten autofreien Sonntage erschienen uns nicht als ein Fanal der Rohstoffknappheit, sondern als Einladung zu kuriosen Wochenendausflügen. Klimawandel wurde von uns als Übergang in den Frühling oder Winter begriffen. Die Globalisierung war gar kein Thema – allenfalls in Form des Besuchs beim Onkel in Amerika.

Von den Kriegserinnerungen der Eltern wollte man als Kind zunächst wenig wissen. Die einstige Flucht der Mutter aus Ostpreußen oder die Kriegsgefangenschaft des Vaters waren ja kaum nachzuvollziehen.

Dies entsprach der sehr zögerlichen Enttabuisierung der Nazizeit in der Gesellschaftsdebatte. „Die Aufschwunggegenwart war wichtiger als die dunkle Vergangenheit“, sagt der Bevölkerungsforscher Klingholz. Politisiert wurden wir dennoch: Als Franz Josef Strauß 1980 den damaligen Kanzler Helmut Schmidt herausforderte, klebten manche „FJS“-Aufkleber auf den Schulranzen und trugen heiße Kontroversen mit den Trägern der „Stoppt Strauß“-Aufkleber aus.

Wer die demografische Dividende kassiert

Mit dem Alles-wird-gut-Virus infiziert sind die geburtenstarken Jahrgänge älter geworden und haben darüber vergessen, für die Zukunft der nachfolgenden Generationen ausreichend Vorsorge zu treffen, indem sie sich selbst adäquat vermehrten. Hatten die Mütter der 1964 Geborenen statistisch jeweils 2,5 Kinder, so beträgt die Quote der in jenem Jahr zur Welt gekommenen Frauen lediglich um die 1,5 Prozent. Mehr als jede fünfte Frau der Jahrgänge 1964 bis 1968 (21,7 Prozent) ist kinderlos geblieben; bei Akademikerinnen sind es gar 30,9 Prozent. In der Folge ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Großthema der Politik geworden.Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass die Babyboomer für die Wirtschaftserfolge der Republik mitverantwortlich sind, schon weil sie einen überproportionalen Anteil der Gesellschaft ausmachen, gut ausgebildet sind und überwiegend im Erwerbsleben stecken. Ihretwegen stehen Arbeitsmarkt und Wirtschaft gut da. „Wir erleben gerade die letzten Jahre einer demografischen Dividende“, sagt Klingholz. „Viele Menschen arbeiten und zahlen Steuern, müssen zugleich aber wenig Rentner versorgen und sparen noch einen Haufen Geld, weil so wenig Kinder nachkommen.“ Doch die goldenen Zeiten des demografischen Wandels sind bald vorbei.

Die Jungen werden sich gedulden müssen

Noch empfinden sich die Babyboomer als die Säulen der Arbeitswelt, besetzen die zentralen Stellen in Wirtschaft und Verwaltung, versperren den Jungen die Aufstiegswege. Da die Rente mit fünfzig kein Thema ist, müssen sich die Jungspunde noch lange gedulden: So bald werden wir nicht Platz machen. Der Jahrgang 1964 ist der erste, der exakt bis zum vollen 67. Lebensjahr arbeiten muss, wenn er keine Abschläge in Kauf nehmen will. Erst 2031 wird er nach heutigem Stand das Feld räumen.Somit ist 1964 auch der erste Jahrgang, der voll für den damaligen Kindersegen zur Rechenschaft gezogen wird. Trotzdem hätte es die Umdiefünfzigjährigen schlimmer treffen können: Sie mussten weniger Neues wagen als ihre Eltern nach dem Weltkrieg. Oft hat der Sohn den Beruf des Vaters ergriffen, als Handwerker oder Unternehmer, als Jurist oder Lehrer. Sie haben es sich in ihrem Leben bequem gemacht und mussten nur darauf achten, nicht von den Schienen zu fliegen, die ihnen bereitwillig ausgelegt worden waren. Sie führen ein Leben, von dem ihre Erzeuger nur träumen konnten. Von den Aufbauleistungen der Nachkriegsgeneration haben sie in jeder Hinsicht profitiert. Die Eltern haben es nicht für sich getan; über Jahrzehnte galt die Devise, dass die Kinder es einmal besser haben sollen als sie selbst. Dieses Prinzip hat uns zu pragmatischen Menschen gemacht: tüchtig und strebsam, aber auch angepasst und wenig kämpferisch – ohne übermäßigen Enthusiasmus, die Welt zu verändern. Denn das war ja nicht nötig.

Elitegefühl trotz Massenerfahrung

Mehr Masse als Klasse also? Im Gegenteil, man schwimmt mit im großen Strom, und trotzdem schleicht sich so etwas wie ein Elitegefühl ein. Wer will, mag es auch als Ausdruck mangelnder Individualität ansehen, doch ein gewisser Stolz dazuzugehören, ist nicht zu verhehlen. 1964 war unterm Strich ein besonderer Jahrgang.

Die Babyboomer können darauf hoffen, dass die Republik noch ein paar gute Jahre hat, bis die Vergreisung die Gesellschaft vollends erfasst. Schon 2030 wird deutlich mehr als jeder dritte Bürger (36,2 Prozent) mindestens sechs Jahrzehnte gelebt haben. Dann werden die vormals produktiven Jahrgänge zu Empfängern der Sozialsysteme, und viel weniger Menschen müssen für den Wohlstand sorgen. Selbst eine Renaissance (Wiedergeburt) des Babybooms würde daran nichts ändern. Nach uns die Sintflut? Dass die 64er, 63er und 62er viele (gewesen) sind, werden die Kinder und Kindeskinder noch etliche Jahrzehnte spüren.

Bemerkenswerter Jahrgang

1964 kamen viele Menschen zur Welt, die später Berühmtheit erlangten: zum Beispiel die Politikerinnen Ilse Aigner und Ute Vogt, die Sportler Michael Groß, Heike Henkel, Jürgen Klinsmann, Silvia Neid, Henry Maske, Heike Drechsler und Jens Weißflog, die Schauspieler Thomas Heinze und Jan Josef Liefers, die Kabarettisten Rüdiger Hoffmann und Hape Kerkeling, der Philosoph Richard David Precht, der Showmaster Johannes B. Kerner, die Filmemacherin Caroline Link und die Grand-Prix-Siegerin Nicole.

Beim Blick auf berühmten „64er“ im Ausland fällt der große Schauspieleranteil auf. So wurden vor fünfzig Jahren Monica Bellucci, Juliette Binoche, Sandra Bullock, Nicolas Cage, Russell Crowe, Matt Dillon, Clive Owen und Bridget Fonda geboren, aber auch der Amazon-Chef Jeff Bezos, die Bestsellerautoren Dan Brown, Carlos Ruiz Záfon und Bret Easton Ellis, der Musiker Lenny Kravitz und Michelle Obama, die Frau des US-Präsidenten.