Ein Experiment an drei Standorten: In der ersten langen Nacht der Demokratie diskutieren manche Böblinger über Popmusik, andere drucken Fahnen.

„Meine Eltern waren verrückt nach Glenn Miller!“, sagt eine Frau. Andere waren verrückt nach Depeche Mode. Wie Jugendliche der DDR einst ihr Moped und vieles andere versetzten, um Karten für das einzige Konzert ergattern zu können, das die Briten im Osten Deutschlands gab, davon erzählt später ein anderer Teilnehmer der Runde. Die Jugendlichen glaubten, dies sei die einzige Chance, ihre Lieblingsband einmal auf der Bühne zu erleben. Das geschah am 7. März 1988. Rund anderthalb Jahre später fiel die Mauer.

 

Die populäre Musik begleitet Menschen durch ihr Leben. An Lieder knüpfen sich Erinnerungen. nicht wenige Musikstücke bilden mehr oder weniger unmittelbar auch Zeitgeschichte. Deshalb wird im Böblinger Treff am See diskutiert, am Mittwochabend, im Rahmen der ersten langen Nacht der Demokratie, die im ganzen Land und eben auch in der Stadt stattfindet. Der Treff am See ist barrierefreier Treff für Bürger jeden Alters, ein Mehrgenerationenhaus, geleitet von Rolf Hirschbühl. Von ihm stammt die Konzeption des Abends. „75 Jahre Grundgesetz, 70 Jahre Pop“ ist das Thema.

Heino steht neben Fehlfarben

„Rock around the Clock“, das klassische Rock’n’Roll Stück von Bill Haley and the Comets, aufgenommen am 20. März 1954, und das Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 liefern die Eckdaten. Etwas weniger als 20 Bürgerinnen und Bürger jeden Alters, die eine jeweils ganz eigene Vorstellung von Pop-Musik mitgebracht haben, sind in den Treff am See gekommen. Rolf Hirschbühl und Senta Hagmayer-Berner, stellvertretende Leiterin des Treffs und zuständig für die kommunale Seniorenarbeit, gestalten den Abend gemeinsam.

Besondere Zeitleiste Foto: Morawitzky

Der Begriff Popmusik wird hier ganz weit gefasst – im Foyer des Treffs steht ein Schallplattenregal, auf dem Pfadfinderlieder, „Die Besten von Heino“, Billy Bragg und „Monarchie und Alltag“ von Fehlfarben nebeneinander Platz genommen haben. Und ein Zeitstrahl auf einer Stellwand reiht Daten der bundesdeutschen Geschichte aneinander. Ihn können Besucher des Treffs ergänzen um eigene Erinnerungen – ob nun an Udo Jürgens‘ „Griechischer Wein“, das an den Beginn der Gastarbeiterwelle seit Mitte der 1950er Jahre denken lässt, oder an Joseph Beuys, der 1982 im einer Sendung der ARD sang: „Sonne statt Reagan“.

Eine „lange Nacht der Demokratie“ fand zuerst 2012 in Bayern statt. Mittlerweile haben sich Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein der Aktion angeschlossen. Baden-Württemberg ist 2024 zum ersten Mal dabei. In Böblingen findet diese besondere Nacht mit drei Standorten statt. In der Volkshochschule liest der Schauspieler Ernst Konarek am frühen Abend schon Texte „Von der Versöhnung“. Zugleich ist ein Online-Vortrag von Rolf Frankenberger, vom Institut für Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen zu sehen. Das Deutsche Bauernkriegsmuseum in der Zehntscheuer Böblingens lädt unterdessen ein zur Kunstdruck-Session, eng verbunden mit der Ausstellung „An open letter“ der indischen Künstlerin Deepika Arwind.

Nachtschwärmer in der Zehntscheuer

Arwind beschäftigte sich mit dem Bauernkrieg als Folie demokratischer Protestformen, füllte Wände des Museums mit Bildern, Zeichnungen, Schlagwörtern, schuf eine große Collage – und musste leider am Tag vor der langen Nacht der Demokratie abreisen. An ihrer Stelle kommen nun die demokratischen Nachtschwärmer in die Zehntscheuer und drucken ihre eigenen Ideen auf eine lange Stoffbahn, ausgebreitet über Tische. Druckmaterialien, liegen bereit, und einige Besucher haben schon Zeichen, Bilder, Friedenswünsche hinterlassen, auf diesem anderen offenen Brief.

Demokratische Nachtschwärmer haben in der Zehntscheuer Zeichen hinterlassen. Foto: Morawitzky

Zu sehen ist auch ein kleines Werk, das Schülerinnen und Schüler einer elften Klasse des kaufmännischen Berufsschulzentrums Böblingen für die Zehntscheuer erstellt haben: Sie beschäftigten sich mit dem Grundgesetz und mit der Zeit, lange ehe das Gesetz in Kraft trat, als viele Deutsche in die USA auswanderten. Sie ersannen drei fiktive Personen jener Zeit und schrieben, in Rollenspielsituationen, auf, mit welchen Problemen sie sich auseinandersetzen mussten, welche Hoffnungen sie hegten. Ihre Gedanken sind nun als kleine Installation zu sehen, nebst einem seltenen Erstdruck des Grundgesetzes von 1948, den der Verein der Museumsfreunde Böblingen beschaffte.

Waren die Rolling Stones je politisch?

Im Treff am See derweil kommt das Gespräch über Demokratie und Pop mehr und mehr in Gang. Hier plaudert man nun über die deutschen Lieder, die die französische Sängerin France Gall aufnahm, oder darüber, wie deutscher und amerikanischer Hip-Hop sich gegenseitig beeinflussten. Man fragt sich, ob die Rolling Stones überhaupt je politisch waren, und erinnert sich an die Zeit, als in der Popmusik plötzlich auch auf Deutsch gesungen wurde. Nach anderthalb Stunden ist in dieser Runde lange nicht Schluss – denn nach dem Ende der Diskussion bleibt noch Zeit, die Musik, über die man eben noch sprach, gemeinsam auch anzuhören.