Atomkraftgegner aus ganz Deutschland reichen sich die Hand und fordern mit einer 45 Kilometer langen Menschenkette den Atomausstieg.

Neckarwestheim/Stuttgart - Es ist einer dieser Momente, die ein Mensch nicht oft hat in seinem Leben. „Was? Ich soll die Erste in der Kette sein und den Stecker ziehen?“, fragt Alev Seker an diesem herrlichen Samstagmittag und schaut unsicher zu Monika Knoll, die ihr die Botschaft eben überbracht hat. „Ja“, antwortet die Aktivistin des Aktionsbündnisses Energiewende ihrer jungen Freundin, „Du hast den Stecker gebastelt, jetzt sollst Du ihn auch ziehen.“

 

Der Stecker. Er ist das Symbol einer Aktion, die am Samstag bis zu 60.000 Menschen auf die Straße zwischen den beiden Atommeilern in Neckarwestheim im Kreis Heilbronn und dem baden-württembergischen Regierungssitz in Stuttgart gebracht hat. Alev Seker hat ihn gezogen, stellvertretend für all die Demonstranten, die ihren Protest gegen die Atompolitik des Landes und des Bundes kundgetan haben. An einem Masten, dessen Leitungen den Strom aus dem Kernkraftwerk hinaus transportieren, hatte sie ihr selbstgemachtes Werk befestigt. Nun schickt sie den Stecker auf die symbolische Reise vom Zeitalter der Atomkraft hin in eine Zukunft voller regenerativer Energien. Sie strahlt dabei in dem Bewusstsein, die Nummer eins derer zu sein, die ihre Botschaft an die Villa Reitzenstein kabeln. Gleichzeitig könnte sie heulen.

„Wenn ich an die Menschen in Japan denke, kriege ich eine Gänsehaut“, klagt Alev Seker. „Genau 25 Jahre nach Tschernobyl“, murmelt ihre Freundin Monika Knoll und schaut hinüber zum Block eins von Neckarwestheim. „Wissen Sie“, sagt sie dann, „das ist eine sehr ambivalente Situation. Einerseits ist es eine fürchterliche Katastrophe, die sich in Japan ereignet. Andererseits fühlt man sich dadurch bestätigt in seiner Ansicht, dass dies auch bei uns jederzeit passieren kann und dieser Wahnsinn sofort gestoppt werden muss.“

„In Fukushima passiert das, weswegen wir hier sind"

In diesem Wellenbad der Gefühle schwimmen viele der Demonstranten, die sich im Abschnitt eins der Menschenkette eingefunden haben. Schon im Laufe des Vormittags sind zigtausend Atomkraftgegner aus der Republik angekommen am Parkplatz des Kraftwerks. „Wir sind um viertel vor sieben losgefahren“, sagt Christoph Müller-Kimpel, als er einem Bus entsteigt, der sich von Marburg aus auf den Weg nach Neckarwestheim gemacht hatte. Per Radio hat er sich auf dem Laufenden gehalten über das Geschehen in Japan. Nun spricht er von einer beängstigenden Duplizität der Ereignisse: „In Fukushima passiert das, weswegen wir hier sind.“

160 Busse und drei Sonderzüge aus Berlin, Hamburg und Bremen seien angemeldet gewesen, sagt Gottfried May-Stürmer. Der Geschäftsführer des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) im Regionalverband Franken zählt zum Kern derer, die seit Jahresanfang an der Organisation der Menschenkette gearbeitet haben. Doch nun, da es soweit ist, weiß auch er nicht, welcher Regung er mehr Lauf lassen soll: der Freude über die gelungene Veranstaltung oder dem Entsetzen über den Horror von Fukushima. Also schweigt er und ist froh, dass sich seine BUND-Kollegin Gudrun Frank zu ihm gesellt und berichtet, dass man sogar einen Bäcker gefunden habe, der gratis Brezeln verteilt.

Ihre Mitstreiterin, die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender, steht derweil hinter der Bühne auf dem Stuttgarter Schlossplatz, auf der die Kundgebung stattfindet. Während die Atomkraftgegner sich zur Bühne vordrängen und „Mappus weg“ und „Abschalten“ skandieren, atmet die zierliche Frau tief durch. Ein wenig erschöpft sei sie, doch zufrieden. Dann betritt sie das Podium, und es wird ruhig im Publikum. Dahlbender ruft zu einer Schweigeminute für die Menschen in Japan auf, bevor sie ihre Botschaft verkündet: „Es müssen alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden – in Baden-Württemberg, in Deutschland und auf der ganzen Welt.“

Japan bleibt Thema Nummer eins

Die Nachredner tun es ihr gleich. „Japan hat gezeigt, was für ein ungeheuerliches Vernichtungspotenzial in den Atomkraftwerken steckt“, sagt Nikolaus Landgraf, der Landesvorsitzende des Deutschen Gewerkschafts-Bundes, „den Ausstieg aus der Atompolitik haben wir bei der Landtagswahl selbst in der Hand.“ Diesem Appell verleiht auch der Journalist Franz Alt Nachdruck: „Das Motto am 27. März lautet Abwählen, Abtreten, Abschalten.“ Andere Regionen in Deutschland zeigten längst, dass es ohne Atomenergie gehe. Allen voran Ostfriesland, das seine Energie zu 90 Prozent aus Windkraft gewinne. „In Baden-Württemberg hingegen machen die erneuerbaren Energien weniger als ein Prozent aus“, sagt Alt und schimpft, dass die Landesregierung am Tropf der Atomwirtschaft hänge wie ein Junkie an der Nadel.

Neben Dahlbender, Landgraf und Alt sprechen auch der Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz, der Pfarrer Ulrich Koring und Uwe Hiksch, Vorstandsmitglied der Naturfreunde Deutschland, zu den Demonstranten, die ihre grünen, schwarzen und gelben Luftballons in die Höhe halten und dem Stuttgarter Schlossplatz, auf dem es zeitweise kein Durchkommen gibt, einen farbenfrohen Anstrich verleihen.

Nicht schwarz und gelb, dafür grün und rot sind die Vertreter der Parteien, die sich auf dem Schlossplatz versammeln. Die Linken-Landtagskandidatin Marta Aparicio ist gekommen ebenso wie die Spitzenkandidaten von SPD und Grüne, Nils Schmid und Winfried Kretschmann, die bei der Menschenkette den Schulterschluss demonstrieren. Das Unglück von Japan hätte es dafür jedoch nicht bedurft. „Das Abschalten von Neckarwestheim war schon vor der Katastrophe in Japan angesagt“, betont Winfried Kretschmann.

Abwählen, Abtreten, Abschalten

Brigitte Dahlbender sieht das genauso. Sie hätte sich gewünscht, diese Katastrophe wäre nicht passiert – nicht einen Tag vor der größten Anti-Atom-Menschenkette, die es je im Südwesten gegeben hat, und auch sonst nie. Doch ist die Angst vor dem atomaren Gau, die den Menschen nun vor Augen geführt wird, auch ein Signal. „Die Katastrophe in Japan ist der endgültige Beweis dafür, dass Atomenergie gefährlich ist und jede Verlängerung eine weitere Gefahr darstellt“, sagt Dahlbender. Instrumentalisieren wolle sie das Schicksal der Bürger Japans nicht.

Doch das Geschehen bleibt das Thema Nummer eins. „Eigentlich hätte ich heute arbeiten müssen, aber die aktuellen Ereignissen haben mich hergeführt“, sagt Jürgen Beck-Bazlen. Und auch Christian Schad, Landesgeschäftsführer der Waldorfschulen, lässt die Katastrophe in Japan nicht los. „Ich wäre auch so gekommen, aber jetzt zeigt sich natürlich ein richtiges Horroszenario.“

Um eine Person bilden sich unterdessen immer wieder Grüppchen von Bürgern und Journalisten. Hiroko Steeb steht nicht weit vom verschlossenen Tor des Staatsministeriums und schwenkt die weiße japanische Fahne mit dem roten Punkt, dem Sonnensymbol, in der Mitte. Noch nie habe sie die Fahne mit auf die Straße genommen. Doch wenn nicht an diesem Tag, wann dann? „Das ganze Land ist geschockt“, sagt sie. Ihre Eltern und die Schwestern wohnen südlich von Tokio und haben die unmittelbaren Folgen der Katastrophe nicht mitbekommen. Doch weit genug weg, für ein sicheres Gefühl, seien sie nicht. „Es schockiert mich, wie sorglos und unverantwortlich mit Atomenergie umgegangen wird“, sagt Hiroko Steeb.

Japan sei wie Deutschland ein hoch industrialisiertes Land, das Energie braucht. Doch zu welchem Preis? „Ich bin nicht nur wegen der Geschehnisse in Japan hier, sonder weil ich Atomkraftgegnerin bin“, sagt Steeb. Und das nicht erst seit dem 11. März 2011 – und schon gar nicht wegen der Landtagswahl. Denn wahlberechtigt ist die Japanerin, die seit 13 Jahren in Stuttgart lebt, nicht. Für die Sache sei dies aber auch nicht relevant: „Atomenergie ist kein Wahlkampfthema, sie ist immer ein Thema.“