Demonstrationen in Stuttgart Rekordzahl an Demos im Coronajahr

Eine Demo auf dem Wasen gegen Coronaregeln lockte Tausende. Foto: Lichtgut/Rettig

So oft wie noch nie gingen in Stuttgart im Jahr 2020 Menschen auf die Straße. Welche Rolle spielte der Coronaprotest?

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Vor Jahresfrist warnte das Ordnungsamt, es könnte langsam eng werden für Demos im Kessel. Die 1520 Kundgebungen – stationär oder mit Aufzug durch die Stadt – hatten die Behörde im Jahr 2019 einige Male vor Herausforderungen gestellt, allen Protestierenden angemessene Orte und ausreichend Platz zu geben. Dann kam 2020, und es sollten noch mehr Demos werden. 1885 verzeichnet das Amt für öffentliche Ordnung im ersten Coronajahr. „Und das sind nur die angemeldeten“, sagt Stefan Praegert, der zuständige Dienststellenleiter im Ordnungsamt. Denn auch unangemeldet darf man spontan auf die Straße gehen.

 

Wie viele Demos wären es ohne Corona geworden?

Es verwundert, dass im Jahr 2020 so viel los war auf den Straßen, als wegen des Virus eigentlich Kontaktvermeidung und das Zuhausebleiben die Gebote der Stunde waren. „Richtig ruhig war es nur einen Monat lang“, sagt Praegert. Ohne Corona, so schätzt er, wären es „locker mehr als 2000“ geworden. Die Pause war im April, im ersten Lockdown. „Viele Veranstalter haben verzichtet, um kein Infektionsrisiko einzugehen“, fügt Praegert hinzu.

Dazu zählt die bis heute größte Bewegung in der Stadt: Die Montagsdemo gegen das Großprojekt Stuttgart 21 läuft seit Corona virtuell im Netz. Ein generelles Verbot habe nie bestanden. „Das ist eine Legende“, sagt Praegert. Die Stadt zählte sieben Rechtsstreitfälle, in denen Veranstalter gegen Verbote klagten. Dabei ging es um die Einhaltung der Schutzregeln.

Gerichte schützen die Versammlungsfreiheit

Das Sozialministerium stellt klar, wie die Coronaverordnung zum Beginn des Lockdowns Versammlungen einordnete: Mehr als 100 Personen durften nicht zusammenkommen, hieß es in der ersten Fassung von Mitte März. Diese Obergrenze sei am 9. Mai „aus verfassungsrechtlichen Gründen“ für Versammlungen aufgehoben worden.

Ab Mai ging es dann wieder los, und es begann mit den großen Coronaprotesten auf dem Cannstatter Wasen die Zeit, in der die Demos thematisch vor allem von der Pandemie und den getroffenen Schutzmaßnahmen geprägt gewesen schienen. Im April hatte sich der Initiator der Querdenker, Michael Ballweg, wegen seiner ersten Veranstaltungen auf dem Schlossplatz mit der Stadt einen Rechtsstreit geliefert – die Stadt hatte sie zunächst verboten. Und er bekam recht: Unter strengen Auflagen durfte er auf dem Schlossplatz demonstrieren.

In dieser Zeit entstanden die Bilder von Protestgruppen, mit Absperrband umkreist, inmitten der Passanten im Stadtzentrum. „Diese Veranstaltungen haben wir kritisch gesehen“, sagt Praegert. Denn auf dem Schlossplatz habe die Gefahr bestanden, dass es zu eng werden könnte und nicht genug Abstand zu Passanten einhaltbar wäre. Als Ballweg deutschlandweit einlud und aufgrund der in der Szene bekannten Teilnehmer mehr Zulauf bekam – etwa beim Auftritt des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen –, zog er auf den Wasen um. Dort war genug Platz für Tausende Teilnehmende mit Sicherheitsabstand.

Auch Gastronomen und Schausteller demonstrieren

Trotz der großen Veranstaltungen machten die Kritiker der Schutzmaßnahmen keinesfalls den Löwenanteil im Demokalender aus. Von den 1885 Kundgebungen befassten sich nur 210 mit Corona; darunter waren auch die Proteste betroffener Branchen wie der Gastronomie oder der Schausteller. Um Corona und die Schutzmaßnahmen ging es nur bei elf Prozent der Demos.

Die Themen waren vielfältig, und vor allem kleine Veranstaltungen ließen die Zahl in die Höhe schießen. „Kein Wochenende vergeht ohne acht bis zehn Versammlungen oder Mahnwachen“, sagt Praegert. Weltpolitische Themen würden stets auch von Protest hierzulande begleitet. Konflikte zwischen Türken und Kurden gehörten etwa zu den Dauerthemen. Aber auch neue Entwicklungen wie die Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny zogen auch in Stuttgart Proteste nach sich.

Der Trend hält seit Jahren an. Zunächst sprach man von einem Stuttgart-21-Effekt, denn von 586 Veranstaltungen im Jahr 2008 sprang die Zahl der Versammlungen mit der großen Protestwelle im Jahr 2009 auf 1174. Seither wurden es immer mehr. „Die Menschen sind aktiver geworden, wenn es um Meinungsäußerungen geht“, sagt Praegert. Mit der Mobilisierung durch die S-21-Gegner allein lasse sich das nicht mehr erklären.

Black Lives Matter: nur wenige Kundgebungen

Im Frühsommer schien sich nach dem Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der bei einem Polizeieinsatz gewaltsam ums Leben kam, eine neue Bewegung zu etablieren: Black Lives Matter (BLM) mobilisierte innerhalb kurzer Zeit zu zwei großen Kundgebungen. Die Organisatoren legten größten Wert auf die Einhaltung der Corona-Schutzmaßnahmen – und verschwanden nach zwei Großdemos wieder von der Bildfläche. Ihre Aktivitäten haben sie jedoch keinesfalls eingestellt. „Es ging ja nicht nur darum, Aufmerksamkeit zu generieren. Wir wollten inhaltlich arbeiten“, sagt der 21-jährige Student Zacharias Hauswirth vom BLM-Team. Deswegen sei man nun vorwiegend im Netz aktiv und unterstütze andere Initiativen, wie etwa bei der Gedenkveranstaltung zu den Morden in Hanau.

Neue Protestform: der Autokorso

Aktuell tut sich ein neues Konfliktfeld auf: Der Autokorso ist zur neuen Protestform geworden. Wöchentlich setzt sich die Stadt damit auseinander, einmal zog sie die Notbremse, da sich die Querdenker nicht auf einen Kompromissvorschlag einließen – das Gericht bestätigte das Verbot. „Unser Wunsch wäre es, wenn das nur einmal in der Woche stattfinden würde“, sagt Praegert, sonst werde es zu eng auf Stuttgarts Straßen.

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