Das Überraschende an den Unruhen in Russland ist der Unmut der Unzufriedenen, der das ganze Land erfasst. Kann das der Macht in Moskau gefährlich werden?

Korrespondenten: Inna Hartwich

Moskau - Roman Bugakow hatte alles vorbereitet. Er hatte Dutzende Mails geschrieben, hatte telefoniert, jede Menge erklärt, hatte seine Frau umarmt, sich warme Schuhe angezogen. Zum Siegesplatz wollte er und von dort „spazieren gehen“ ins Zentrum. Wie so viele andere an diesem kalten Samstagnachmittag in seiner Stadt. Ja, im ganzen Land. Zehntausende Demonstranten zählten Beobachter am Ende dieses 23. Januar. In Rjasan, 200 Kilometer und vier Autofahrstunden südöstlich von Moskau entfernt, waren es knapp 3000, eine Demo in dieser Größenordnung gab es bisher nicht in der jüngsten Geschichte der alten Handelsstadt. Eine Überraschung – für Protestierende genauso wie für den Kreml. „Es ist befremdlich, was in Russland gerade passiert“, sagt der 27-jährige Aktivist.

 

Russlands Oppositionspolitiker Alexej Nawalny war am Wochenende zuvor nach Moskau zurückgekehrt und sofort festgenommen worden. Einen Tag später verurteilte ihn ein Gericht direkt auf einer Polizeiwache zu 30 Tagen Arrest. Seine Anhänger riefen daraufhin zu Protesten auf, gestärkt durch die Resonanz, die Nawalnys Film „Ein Palast für Putin“ hervorgerufen hatte. In Rjasan übernahm die Organisation des Protests Roman Bugakow, wie er es vor einigen Jahren auch übernommen hatte, den „Stab Nawalny“ zu leiten, die Rjasaner Vertretung der im ganzen Land verstreuten Büros des Kreml-Kritikers.

Einsatz von Schlagstöcken gegen Demonstranten

Bugakow ist nun Ex-Leiter des Stabes, seine privaten Konten sind gesperrt, immer wieder steht er unter Beobachtung des Staates – weil Sicherheitsorgane und das russische Ermittlungskomitee im Dezember 2019 in einer konzertierten Aktion Büros und teils Wohnungen von Freiwilligen und Nawalnys Mitarbeitern durchsucht hatten. Die Einschüchterung sollte auch am 23. Januar greifen: Die Polizei ließ Bugakow gar nicht erst zum Siegesplatz. Er sei festgehalten worden, weil er angeblich sein eigenes Auto gestohlen haben soll, sagt er. Am Wochenende darauf ein ähnlicher Vorwurf – mit demselben Ausgang: Die Proteste in Rjasan, dieser „typischen verschlafenen zentralrussischen Stadt“, wie er sagt, verliefen ohne den jungen Nawalny-Anhänger.

Der 70-jährige Alexander Bechtold aber kam. Er stand am Siegesplatz, er lief den 1.-Mai-Prospekt entlang, ging mit dem Protestzug zum Lenin-Platz – und wurde hier in den Gefangenentransporter geworfen. Mit einer Platzwunde am Kopf und an der Lippe. Mit Schwindel und völligem Entsetzen. Polizisten der Spezialeinheit Omon hatten ihn zu Boden geworfen.

Vieles hatte der Bürgerrechtler in seinem Leben schon gesehen, vieles auch selbst erlebt. „Aber dass ich mit 70 einen Schlagstock auf den Kopf bekomme, das ist schon eine andere Dimension“, sagt der Geologe, der der Liebe wegen aus dem Fernen Osten nach Rjasan gezogen war. In diesen Ort, der einst ein Knotenpunkt für Pilger und Händler auf dem Weg nach Zentralasien war und in Sowjetzeiten zu einem militärischen Zentrum in Zentralrussland wurde. Etwa 500 000 Menschen leben hier, in dieser gemütlichen Stadt mit Kreml, Parks, einer Universität. In der sie über die kaputten Straßen klagen und die schlechte Luft durch die Fabriken. Die sie oft für die Schichtarbeit in Moskau verlassen und doch wiederkommen. Und in der viele beim Schimpfen in ihren Küchen sagen: „Der Staat nimmt uns die Würde.“

Sagen sie das laut bei Protestaktionen, kommt der Staat und führt sie ab. Oder er schlägt zu. Wie auf junge Demonstranten, für die sich Bechtold mit einem „Was tun Sie denn da?“ einsetzen wollte. Videos zeigen, wie zwei Polizisten in Vollmontur ihn über den Boden schleifen wie einen Sack Zement. Bechtold lässt die Filme im Büro der Rjasaner Vertretung der liberalen „Jabloko“-Partei laufen, kommentiert die Bilder: „Für die Sicherheitsorgane sind wir Unmenschen.“

„Der innere Widerstand wächst, der äußere verstummt“

Es ist dieses harte Vorgehen der Polizei, das viele der Protestierenden in Angst und Schrecken versetzt hat, das dazu geführt hat, dass bereits eine Woche später nur noch etwa 200 Unzufriedene in Rjasan auf die Straßen gingen. Bis zum Frühling oder gar Sommer lässt das Nawalny-Team den Straßenprotest nun ruhen, quer durchs Land. Zu viele sitzen in den Arrestzellen, zu viele warten auf Prozesse. Die Schlagstock-Politik wirkt. Die Menschen haben Angst, ihren Job zu verlieren, haben Sorge, ihren Kredit nicht mehr abzahlen zu können. „Der innere Widerstand wächst, der äußere aber verstummt“, sagt Bechtolds Frau Sofia Iwanowa, Gründerin der Rjasaner Schule für Menschenrechte: „Hier zählen vor allem Pflichten.“ Seit Jahrzehnten klärt sie genau darüber auf: „Eine sehr langsame Arbeit.“

Draußen in der Dunkelheit schneit es, drinnen haben die Bechtolds Teewasser aufgesetzt. Sie siezen sich, sprechen sich mit Vor- und Vatersnamen an. Es klingt liebevoll-vertraut. Sie können sich neckisch über Nawalny streiten und über die Sanktionen des Westens: „Aber Sofia Jurjewna, wie können Sie nur so ein sanftes Wort wie ,unklug’ verwenden, wenn Sie über das nicht hinnehmbare Verhalten des Regimes sprechen?“, sagt er, lächelt, gestikuliert. „Alexander Fjodorowitsch, man weiß doch nie, wer einem noch so zuhört.“ Es ist keine Paranoia, es ist die Erfahrung von Kritikern, die auf alles eingestellt sind. Er ist der optimistische Realist, sie eine ernüchterte Kämpferin. Das Paar kennt Durchsuchungen, auch Vorladungen der Behörden, kennt Denunziationen und falsche Gerüchte. Sofia Iwanowa sagt: „Wir sind keine Ratten, die das sinkende Schiff als erste verlassen. Wir sind nicht allein, das gibt Kraft zum Weitermachen.“