Catherine Deneuve ist ein Filmstar, der sich weigert, zum Filmdenkmal zu erstarren. Am Mittwoch läuft auf Arte, 20.15 Uhr, das Psychodrama „Der Tag, der alles veränderte“ – und Deneuve spielt sich darin in irritierende Schwebezustände hinein.

Stuttgart - Zwei junge Männer, beide um die 19, albern in einem Jugendzimmer herum. Mathieu (Adrien Jolivet) liegt auf dem Bett, zupft an der Gitarre und schaut zu, wie Franck (Thomas Dumerchez) ein Kleid ausprobiert. Als auch er beginnt, sich zu schminken, platzt seine Mutter Camille (Catherine Deneuve) herein – und lacht. Sofort steigt sie ein in das Geschlechterspiel, zupft an den Wimpern ihres Sohnes Mathieu, zieht den Lippenstift nach und erfährt, dass die beiden sich für die Junggesellen-Abschiedsparty eines Freundes zurechtmachen. In der Nacht, als Camille gerade die Katze füttert, klingelt das Telefon, sie hört kurz zu, sagt kein Wort und bricht schluchzend zusammen.

 

In langen Einstellungen, mit sanft bewegter Kamera erzählt Gael Morel in seinem 2007 entstandenen Film „Der Tag, der alles veränderte“ von einer Mutter, die ihren Sohn verliert. Der Schock, das Leid, das Trauma, all dies beobachtet der Regisseur sehr genau und mitfühlend. Aber aus seiner Geschichte wird trotzdem keine Anleitung zur Trauerbewältigung, sie gleitet vielmehr hinein in die Psyche einer Frau, die in den Ausnahmezustand gestürzt wird und daraus nicht mehr herausfindet. Nach der Beerdigung des Sohnes fährt Camille zum Unfallort und stößt dort auf Franck, der in jener Nacht am Steuer saß. Camille nimmt ihn mit zur Trauerfeier, wo ihre Tochter aufgebracht fragt: „Was macht er hier?“

„Ich fühle mich verantwortlich für ihn!“, sagt Camille, die sich zunächst bei einem Unidozenten für Franck einsetzt und ihn schließlich in der Buchhandlung anstellt, in der sie auch selbst arbeitet. Sie wirkt wieder energisch und zielgerichtet. Im gleichen Maße aber, in dem sie Franck immer näherrückt, entfremdet sie sich ihrer Familie und ihren Freunden. Franck aber lässt sich Camilles Fürsorge zunächst gefallen und fährt auch immer wieder mit ihr zum Unfallort. Erst als sie ihn zu einer Art Re-Enactment drängt, die fatale Fahrt also nachstellen will, steigt er aus und fragt: „Was wollen Sie von mir?“

Gefühlsverwirrung einer Stalkerin

Es ist natürlich die Frage, um die der ganze Film kreist. Ja, Camille sieht in Mathieus Freund wohl die letzte Bindung zu ihrem Sohn, sie lässt sich von dem etwas antriebslosen Franck die letzten Minuten im Unfallwagen erzählen, sie kauft auch Karten für ein Rockkonzert, mischt sich unters junge Publikum und schaut den feminin anmutenden Sänger der Band so an, wie ihn vielleicht auch Mathieu angesehen hätte. Ein wenig Inzestuöses mag da mitschwingen, wenn sie mit Hilfe von Franck das Leben von Mathieu nachlebt, aber sexuelle Annäherungen scheinen (noch?) tabu. Und so sehr Camille dirigiert und kommandiert, sie wirkt dabei sprunghaft und sich selber oft fremd. Nein, diese Frau weiß nicht wirklich, was sie will, sie wird von etwas angetrieben, das sie selber nicht formulieren könnte.

„Der Tag, der alles veränderte“ präsentiert keinen „Fall“, er erklärt die Gefühlsverwirrungen seiner zur Stalkerin werdenden Heldin also nicht von außen, sondern übernimmt ihre Perspektive. Dabei nähert sich der Film manchmal dem Psychothriller, doch darin herrscht – ähnlich wie in den Romanen von Patricia Highsmith – keine Psychologie nach Vorschrift. Der Film wagt vielmehr einen Blick in die nie ganz auszuleuchtenden Abgründe der Seele. Während die Tochter schließlich vom Sanatorium spricht, bleibt der Regisseur Morel selbst dann noch bei Camille, wenn ihre Realität von der Irrealität nur noch schwer zu unterscheiden ist.

Catherine Deneuve spielt diesen irritierenden Schwebezustand exzellent. Sie mag, wenn man ihr tatsächliches Geburtsdatum nimmt, ein wenig zu alt sein für diese Mutter, aber sie stellt sich nicht über diese Rolle, sondern ist sofort in ihr drin. Dieser Star – er wird im kommenden Jahr siebzig – verkörpert französische Filmgeschichte, ja, aber er ist noch lange nicht zum nationalen Denkmal erstarrt. Catherine Deneuve riskiert etwas, sie nimmt, auch was die Bandbreite ihrer Rollenwahl betrifft, immer wieder neue Herausforderungen an. Und bleibt dabei doch die Deneuve. „Für meine Haare wurde ich immer sehr bewundert!“, sagt sie mal in diesem Film. Es ist übrigens die einzige Koketterie, die sich der Regisseur und seine Schauspielerin leisten.