Die rätselhaften Denisova-Urmenschen kannte man bislang nur aus einer einzigen sibirischen Höhle. Nun fanden Forscher ein Stück Kiefer – in Tibet auf über 3000 Meter Höhe.

Stuttgart - Wenn die Mönche in der 3280 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Baishiya-Karsthöhle in Xiahe in Tibet Fossilien fanden, mahlten sie daraus Knochenmehl, das sie für traditionelle Heilmittel verwendeten. Bei einem Unterkieferknochen aber machten sie 1980 eine Ausnahme und schenkten ihn Jigme Tenpe Wangchug. Dieser wiedergeborene Buddha lebte und lehrte bis zu seinem Tod im Jahr 2000 als sechste Reinkarnation des buddhistischen Meisters Gungthang im Kloster Labrang in Xiahe. Den Unterkiefer aber hatte er schon lange vorher der Lanzhou-Universität übergeben, wo er in einer Schublade beinahe in Vergessenheit geriet. Schließlich konnten die Forscher dort nicht ahnen, dass Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig und seine Kollegen diesen Unterkiefer mit den naturwissenschaftlichen Methoden des 21. Jahrhunderts in der Zeitschrift „Nature“ als Überrest der geheimnisvollen Menschenlinie der Denisovaner entlarven würden.

 

Verblüffende Eigenschaften eines Unterkiefers

Die Frühmenschenforscher der Lanzhou-Universität hatten ihren Kollegen Jean-Jacques Hublin um Hilfe gebeten, weil der Unterkiefer, den sie schließlich doch wieder aus seiner Schublade geholt hatten, sehr verblüffende Eigenschaften hatte, die niemand erklären konnte. Waren doch auf dem Hochland von Tibet bisher nur Fossilien aufgetaucht, die höchstens 40 000 Jahre alt waren und die allesamt von modernen Menschen stammten, die Frühmenschenforscher als Homo sapiens bezeichnen. „Der Unterkiefer aus der Baishiya-Höhle aber konnte unmöglich zu einem modernen Menschen gehören, die Backenzähne waren viel zu groß, und ein Kinn fehlte auch“, fasst Jean-Jacques Hublin seine erste Analyse eines Bildes zusammen, das die chinesischen Kollegen gemailt hatten.

Die großen Backenzähne aber passten gut zu den Zähnen der vorher unbekannten Menschenlinie der Denisovaner, die Svante Pääbo und Johannes Krause Ende 2009 mithilfe von Erbgut-Analysen entdeckt hatten. Diese Denisovaner jedoch waren seither geheimnisumwittert geblieben, weil von ihnen bisher nur wenige Zähne und einige Fragmente von Knochen aufgetaucht waren. Alle diese Fossilien hatten russische Forscher in der Denisova-Höhle im Altaigebirge im äußersten Süden von Sibirien gefunden. Aus so wenigen Puzzlesteinen aber können die Forscher kaum ein Phantombild der Denisovaner rekonstruieren. Das erschwert die Suche nach weiteren Fossilien der neuen Menschenlinie, deren Erbgut bisher ebenfalls nur in Fossilien aus der Denisova-Höhle gefunden wurde.

Gen half bei Anpassung an Höhlenleben

Allerdings steckt ein kleiner Teil ihres Erbguts auch im Erbgut heute lebender Menschen, die im Süden Asiens und auf den Inseln der Südsee zu Hause sind. Obendrein hatten die Menschen, die heutzutage im Hochland von Tibet leben, von den Denisovanern auch das EPAS1-Gen übernommen. Diese Erbeigenschaft hilft dabei, auch in großen Höhen leistungsfähig zu bleiben, in denen jeder Atemzug viel weniger Sauerstoff als in tiefer liegenden Regionen enthält. Der Verdacht lag nahe, dass die Denisovaner einst auch im Hochland von Tibet lebten und den späteren Tibetanern das praktische Höhenanpassungsgen vererbt hatten. Hatten Fahu Chen und Dongju Zhang von der Lanzhou-Universität in den Schubladen ihres Archivs mit dem Unterkieferknochen also vielleicht ein Relikt der Denisovaner gefunden?

Einen ersten Hinweis darauf könnte das Alter des Knochens liefern, auf dem sich eine Kalkschicht abgelagert hatte. Chuan-Chou Shen von der Abteilung für Geowissenschaften der National-Universität von Taiwan untersuchte daher die Isotope in dieser Kalkschicht, die im Laufe der Jahrtausende beim radioaktiven Zerfall des natürlicherweise im Kalk enthaltenen Urans entstehen. Diese „atomaren Uhr“ aber tickte seit mindestens 160 000 Jahren, der von der Kalkschicht eingehüllte Unterkiefer muss demnach mindestens genauso alt sein. Menschen hatten es daher schon viel früher als bisher bekannt gelernt, in solchen Höhen zu leben. „Leider konnten wir aus dem Knochen oder den Zähnen kein Erbgut isolieren, das uns verraten hätte, zu welcher Menschenlinie dieser Unterkiefer gehört“, erklärt Hublin.

Analyse alter Proteine

Jetzt war Frido Welker von der Universität Kopenhagen gefragt, der sich auf die Analyse alter Proteine spezialisiert hat. Zwar konnte er im Pulver aus dem Unterkiefer keine verwertbaren Proteine isolieren, wurde aber bei einem Backenzahn fündig. Auch dort hatte der Zahn der Zeit die Proteine bereits erheblich zersetzt. Das aber ist ein gutes Zeichen: „Diese Zersetzung zeigt, dass es sich wirklich um altes Material und nicht etwa um eine Verunreinigung aus jüngster Vergangenheit handelt“, erklärt Welker.

Forscher in China fanden neben den bereits vor zwei Millionen Jahren auftauchenden Frühmenschen vom Typ Homo erectus und den modernen Menschen (Homo sapiens) noch eine dritte Gruppe, die sie bisher nicht einordnen konnten. Diese Fossilien können die Forscher jetzt mit dem Unterkiefer aus der Baishiya-Karsthöhle vergleichen und so überprüfen, ob diese vielleicht ebenfalls zu den Denisovanern oder deren nahen Verwandten gehörten.