Über Denkendorf in der Zeit des Nationalsozialismus gibt es bis heute keine lokalgeschichtliche Aufarbeitung. Ein Forschertrio will den blinden Fleck beleuchten. Warum Denkendorf anderen Kommunen hinterherhinkt, wissen sie noch nicht.

Denkendorf war anders. In den späten 1970er und den 1980er Jahren, als die Zahl örtlicher, noch lebender Nazi-Größen geringer und die Familienbande lockerer geworden waren, wurde das Gedenken an den Nationalsozialismus landauf, landab von den Mahnmalsockeln des anonymen Grauens geholt. Städte und Gemeinden rückten ihre Geschichte unter dem Hakenkreuz in den Erinnerungswinkel. Namen wurden genannt, Fragen gestellt, auch wenn sie nach wie vor nicht allen passten. Nach Jahrzehnten kam die Aufarbeitung dort an, wo die Diktatur zuerst und zunächst ihr Gesicht zeigte: vor der Haustür. In Denkendorf war das anders. Nicht mit der Diktatur. Nur mit der Aufarbeitung.

 

Am Anfang der Recherche

„Die Nazi-Zeit ist hier ein blinder Fleck. Darüber habe ich mich immer gewundert“, sagt Jörg Thierfelder, evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker, früherer Professor an den Pädagogischen Hochschulen Esslingen und Heidelberg, ehemaliger SPD-Gemeinderat in Denkendorf, wo er seit 1970 lebt. Auch Hans-Joachim Hirrlinger, Journalist und früherer Redakteur der „Eßlinger Zeitung“, ist Denkendorfer, aber kein Ureinwohner. Beide belassen es nicht mehr beim Wundern. Sie wollen die Gedächtnislücke schließen. Dritter im Recherchebund ist Hans-Peter Ziehmann, Wahl-Denkendorfer auch er, 20 Jahre als Pfarrer im Amt, jetzt im Ruhestand. Arbeitstitel des Projekts: Denkendorf im Nationalsozialismus. Man steht noch am Anfang, aber erste Ergebnisse hat das Suchen schon gezeitigt.

Warum so spät? Darauf gibt es noch keine Antwort

Nur warum ausgerechnet Denkendorf die braune Spur verlor – darauf gibt es keine Antwort. Sie setzt voraus, was bislang fehlt: die Forschung. „Beim jetzigen Kenntnisstand kann ich nichts Gesichertes dazu sagen“, erklärt Thierfelder. Hirrlinger spricht von „Berührungsängsten“, die immer noch spürbar seien, die Frage nach dem Warum aber auch nicht klären. So wenig wie das zur Verfügung stehende dokumentarische Material: Gemeinderatsprotokolle aus jener Zeit, die Protokolle der Kirchengemeinde, amtliche Schriftstücke im Kreisarchiv.

„Selbstaussagen von Denkendorfern fehlen fast komplett“

Die Erinnerungen eines späteren Gemeinderats an seine Zeit als Hitlerjunge, vor allem aber die Chronik des Pfarrers Heinrich Werner von 1947, eines Nazi-Gegners, der von der Gestapo verhört wurde, sind Quellen, die schon eher in jene Zwischenräume hineinleuchten, um die es Hirrlinger geht: die Räume zwischen den Ereignissen und ihrer subjektiven Wahrnehmung. Aus dem Erleben des Nationalsozialismus in erster Person erschließt sich, wie die Leute tatsächlich gestimmt waren, als die Vergangenheit Gegenwart war. Aber weitere Briefe, Tagebücher oder Aufzeichnungen, die persönliches Zeugnis ablegen könnten, stauben unerschlossen in Kellern, Kisten und Speichern vor sich hin – oder werden unter Verschluss gehalten. Keine ungewöhnliche Situation für lokale Geschichtsforscher. Nur kommt, anders als vor 40 Jahren, eines hinzu: Es gibt fast keine Zeitzeugen mehr. Erzählungen aus zweiter oder dritter Hand, von der Generation der Kinder und Enkel überliefert, verlieren mit zunehmender Entfernung vom Ursprung an Authentizität, fürchtet Hirrlinger. Er bedauert: „Selbstaussagen von Denkendorfern über jene Zeit fehlen fast komplett.“

Zwischen Pietismus und Arbeiterbewegung

Ob der in Denkendorf verwurzelte Pietismus etwas mit dem Schweigen der Lämmer zu tun hat, bedarf genauerer Klärung. Klar ist, dass der Pietismus 1933 nicht allein die Mentalität prägte – und dass danach auch widerständige Impulse von ihm ausgingen. „Denkendorf war zu der Zeit ein Arbeiterort“, sagt Thierfelder. „Bei den Wahlen vor 1933 waren SPD und KPD am stärksten. Nach 1933 waren sie durch das Parteienverbot von einem Tag auf den anderen quasi nicht mehr existent.“ Mindestens drei Denkendorfer Mitglieder der linken Parteien wurden im Konzentrationslager inhaftiert. Hirrlinger hat sie in der Namensliste des KZ Heuberg bei Stetten am kalten Markt gefunden.

Auf der anderen Seite, so Thierfelder, „geht aus Pfarrer Werners Chronik hervor, dass viele CVJM-Mitglieder zunächst mit der NSDAP sympathisierten. Laut Werner verbanden sie mit der Partei politische Hoffnungen, die ihre konservative Werthaltung widerspiegelten.“ Als sich die Nazis dann allerdings das CVJM-Haus unter den Nagel reißen wollten – 1933 hatten sie schon das den Naturfreunden gehörende Freibad beschlagnahmt –, rückte die Kirche zusammen, nahm das Haus in den eigenen Besitz und rettete es so vor der Enteignung. Man ging auf innere Distanz zu den Machthabern, wahrte die geistliche Eigenständigkeit, die keineswegs gefeit war vor den Übergriffen des Regimes. Allein in Württemberg, so Thierfelder, verloren 700 evangelische Pfarrer die Lehrerlaubnis für den Religionsunterricht.

Noch Weiteres haben die Forscher bereits herausgefunden: Drei Denkendorfer wurden im Rahmen des sogenannten Euthanasieprogramms in der Anstalt Grafeneck ermordet. „Leider gibt es kaum Informationen über sie“, sagt Hirrlinger. Etwas mehr weiß man über zwei Menschen, die zwangssterilisiert wurden. Die Geschicke der überwiegend französischen Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter, etwa in der Zellwolle-Lehrspinnerei, einer Vorläuferin des Textilinstituts, sind ebenfalls Thema des Projekts. Und was steht am Ende? „Wir wissen es nicht“, sagt Hirrlinger. „Vielleicht eine Buchveröffentlichung, vielleicht eine Datenbank.“

Als die Vergangenheit Gegenwart war

Material gesucht
 Die Geschichtsforscher Jörg Thierfelder, Hans-Joachim Hirrlinger und Hans-Peter Ziehmann suchen für ihre Recherche zu Denkendorf in der Zeit des Nationalsozialismus Briefe, Tagebücher, persönliche Aufzeichnungen, Fotografien und ähnliches Material, nicht nur aus der Zeit von 1933 bis 1945, sondern auch aus den Jahren davor. Den Forschern geht es auch darum, die Stimmung, die politischen und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Denkendorf vor der Machtübernahme der Nazis zu sondieren.

Ansprechpartner
Wer entsprechende Schriftstücke oder anderes Material zu jener Zeit besitzt und zur Verfügung stellen kann, möge sich unter der Telefonnummer 01 76 / 96 69 65 23 mit Hans-Joachim Hirrlinger in Verbindung setzen.