Das Gemeindezentrum in Sonnenberg des Architekten Enst Gisel ist nun ein „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“. Das Fellbacher Rathaus folgt in Bälde.

Stuttgart - Auf einem völlig unakzentuierten Eckgrundstück inmitten vorörtlicher Streubebauung mit Einfamilienhäusern spricht das Gemeindezentrum eine kräftige, dabei aber nicht laute Sprache. Die Sichtbetonwände, vielfältig plastisch gegliedert (. . .), haben durch die selbstverständlichen, angenehmen Proportionen der breit hingelagerten Baukörpergruppe alle abweisende Starre verloren.“ So wohlwollend bewertete das Fachmagazin „Bauwelt“ kurz nach der Eröffnung 1966 die neue evangelische Kirche mit angeschlossenem Gemeindezentrum in Sonnenberg. Mancher Anwohner wird damals dennoch geschluckt haben angesichts dieser Betontrutzburg im Wohngebiet, gilt Sichtbeton doch nicht erst heute als Inbegriff des Klotzigen und Unwirtlichen in der Architektur.

 

Die Sonnenberger engagieren sich für ihre Kirche

Aber die Sonnenberger haben Glück gehabt mit ihrem Architekten, dem Schweizer Ernst Gisel. Und Ernst Gisel hat Glück gehabt mit den Sonnenbergern. Mögen sich die Vorzüge seines Bauwerks auch nicht jedermann im Sprengel auf Anhieb erschlossen haben – mittlerweile weiß man im Stadtteil, was man an dem wie ein Gehöft um einen Hof gruppierten Ensemble aus Kirche, freistehendem Glockenturm, Kindergarten, Gemeindesaal und Mesnerwohnung hat: nämlich ein herausragendes Beispiel für den Sakralbau der sechziger Jahre und zugleich ein lebendiges Zentrum, „das die Gemeinde zusammenhält“, wie es Pfarrer Johannes Bröckel ausdrückt. Der Architekt wiederum kann sich freuen über das außergewöhnliche Engagement der Sonnenberger für ihre Kirche und deren Instandhaltung. Um die Anlage auch in Zeiten schwindender Mittel in Schuss zu halten, haben sie einen Förderverein gegründet, der inzwischen beachtliche 260 000 Euro einsammeln konnte.

Der Einsatz aller Beteiligten hat sich gelohnt: Am Himmelfahrtstag, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Einweihung, wurde die Sonnenbergkirche in den Denkmalsrang erhoben. Regierungspräsident Johannes Schmalzl bescheinigte dem Ensemble bei einem Festgottesdienst „eine der ästhetisch wie funktional avanciertesten Lösungen des Kirchenbaus seiner Zeit“ zu sein, weshalb es fortan als „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ geschützt ist. Diesem Ritterschlag folgt am kommenden Montag sogleich ein zweiter, wenn Gisels anderer Bau in der Region, das vielfach ausgezeichnete Fellbacher Rathaus, ebenfalls ins Denkmalbuch aufgenommen wird.

Gisels Malerei steht im Kontrast zu seinen Bauwerken

Grund zur Freude hätte Ernst Gisel aber gleich mehrfach gehabt, denn in Stuttgart wird der Züricher nicht nur als Architekt ge- und verehrt, sondern auch als Künstler. Am Abend vor der Denkmalszeremonie eröffnete die Galerie Abtart in Möhringen eine Ausstellung seiner Zeichnungen und Aquarelle. Mit diesen meist während seiner Südfrankreich-Urlaube entstandenen Arbeiten erweist sich Gisel als Meister subtiler Landschaftsdarstellungen. Wie seine kaleidoskopisch in scharfkantige Elemente zerlegte Architektur erscheinen die mediterranen Felsküsten und alpinen Berggipfel aus flächigen Puzzleteilen komponiert. Im Gegensatz zur wuchtigen Materialsprache seiner Baukörper sind die Bilder aber von einer überraschenden Zartheit, mit lasierendem Pinsel und hellen Farben virtuos aufs Papier getuscht. Am ehesten erkennt man den Architekten in den Buntstiftzeichnungen wieder, auf denen die Wolken aussehen wie fliegende Gebäudeteile.

Gisel selbst konnte bei den Stuttgarter Feierlichkeiten nicht dabei sein. Am 8. Juni wird er 92. Vertreten ließ er sich von seinem Sohn Georg und dessen Ehefrau sowie dem Architekten Willi Egli. Der Züricher, ehemals Mitarbeiter in Gisels Büro, hat vor fünfzig Jahren das Modell für die Sonnenbergkirche gebaut. Daran erinnerte er sich in seinem Grußwort vor der im zeltartigen Kirchenraum versammelten Festgemeinde, das sich zu einer veritablen Architekturvorlesung auswuchs. Alle Gisel-Werke, sagte er, seien auf den Ort bezogene, gegen kurzlebige Architekturmoden gefeite Bauten. Große Zeitgenossen wie Le Corbusier, vor allem aber Alvar Aalto haben den Schweizer zwar erkennbar beeinflusst, er selbst aber – legendär wortkarg – nennt als sein Programm nur „Folgerichtigkeit“, „besonnene Nüchternheit“ und „gediegene Qualität“. So wird man zum Klassiker.

In der Moderne verwurzelt, doch ein eigenständiger Kopf

Biografie
Ernst Gisel ist einer der einflussreichsten Schweizer Architekten der Nachkriegszeit. Sein Werk umspannt fast alle Phasen der Moderne, zeugt dabei aber von großer Eigenständigkeit. Geboren wurde er am 8. Juni 1922 in Adliswil, Zürich. Mit seinem eigenen Büro, gegründet 1945, war Gisel bald bei zahlreichen Wettbewerben erfolgreich. Zu seinem Werk zählen Theater-, Kirchen- und Schulbauten in der Schweiz und in Deutschland. Internationale Anerkennung brachte ihm das Parktheater Grenchen (1953–1955), viele kommunale Bauaufgaben folgten. Daneben identifiziert er sich besonders mit dem Wohnungsbau. So plante er für das Märkische Viertel in Berlin 1800 Wohnungen.

Ausstellung
Bis zum 18. Juli zeigt die Galerie Abtart, Rembrandtstraße 18 in Möhringen „Aquarelle, Farbstiftzeichnungen, Federzeichnungen“ von Ernst Gisel. Geöffnet Di–Fr 14–19 Uhr.