Tatort Schillerplatz: Vor 40 Jahren hat Stuttgart hier darauf verzichtet, nach seinen ältesten Wurzeln zu forschen und lieber eine Tiefgarage gebaut – obwohl Historiker, Archäologen und Heimatkundler Alarm schlugen.

Stuttgart - Vierzig Jahre sind vergangen, aber die Geschichte brennt ihr noch immer auf der Seele. Rotraut Wolf ist zum Schillerplatz gekommen – wo sich all das ereignet hat, was sie noch viele Jahrzehnte später empört. Nirgendwo sonst in Stuttgart verdichtet sich die Geschichte der Stadt derart wie an diesem Ort, in dessen Mitte die Statue Friedrich Schillers steht. Die Glocke der Stiftskirche schlägt, die dicken Mauern des Alten Schlosses sind erleuchtet, vor der Alten Kanzlei sitzen die Menschen und genießen die milde Luft eines späten Frühlingstages. Viele von ihnen sind mit dem Auto gekommen, die meisten haben ihr Fahrzeug in einer Tiefgarage abgestellt, unmittelbar unter dem Sockel der Schillerstatue.

 

Rotraut Wolf schweift mit ihren Gedanken in die Vergangenheit ab. Bei ihrer Zeitreise bleibt die Uhr an einem Frühlingstag des Jahres 1972 stehen. Die Tiefgarage, die unter den Pflastersteinen des Schillerplatzes liegt, ist in ihren Augen kein gewöhnliches Parkhaus. Für Rotraut Wolf ist der Bau der Tiefgarage ein Beispiel dafür, wie Stuttgart systematisch seine eigene Geschichte verspielt hat – und es immer noch tut.

Heftiger Streit

Vor vierzig Jahren ist in der Stadt ein heftiger Streit darüber entbrannt, ob die Commerzbank ein Parkhaus unter dem Schillerplatz bauen darf – Historiker, Archäologen und Heimatkundler schlugen Alarm: Sie vermuteten im Untergrund des Schillerplatzes die Wiege der Stadt, den historischen Stutengarten – der Protest mündete in die „Aktion Schillerplatz“ und den Aufruf, das Bauvorhaben zu stoppen, da sonst „eine einmalige Chance“ verwirkt werde, Stuttgarts Stadtkern freizulegen und zu erforschen.

„Die Stadt“ erinnert sich Rotraut Wolf an diese Debatte, „hatte damals absolut kein Interesse an ihrer Geschichte.“ Im Februar 1972 stimmte der Stuttgarter Gemeinderat dem Bau der Tiefgarage zu – und Rotraut Wolf wurde ungewollt Zeugin und schließlich Mitspielerin in einem Spiel, das ihr überhaupt nicht gefiel. Sie arbeitete im Landesmuseum im Fachbereich Frühes Mittelalter, als im Mai 1972 die Bagger anrollten, um sich auf dem Schillerplatz in den Untergrund zu wühlen. Dort, wo die Archäologen lieber Stein für Stein vorsichtig abgetragen hätten.

Die Denkmalschützer hatten ihre zaghaften Einwände gegen den Bau der Tiefgarage zuvor mit dem Hinweis verbunden, dass sie personell und finanziell nicht in der Lage seien, nach den Fundamenten der Stadt zu graben. Rotraut Wolf jedoch konnte den Gedanken nicht ertragen, dass womöglich entscheidende Hinweise auf die Gründungsgeschichte der Stadt unwiderruflich verloren gehen könnten.

Sinn historischer Forschung

An einem Frühlingstag 1972 machte sie sich mit einer Flasche Schnaps zur Baustelle auf, in der Hoffnung, dass der Alkohol helfen würde, den Bauarbeitern den Sinn von historischer Forschung näher zu bringen. „Die Arbeiter hat es geschüttelt vor Lachen, als ich mit der Flasche vor ihnen stand“, erinnert sich Rotraut Wolf. Das Eis war gebrochen. In den folgenden Monaten wurde die Historikerin zum Stammgast auf der Baustelle, oft riefen sie die Arbeiter sogar an, wenn erneut alte Mauern frei gelegt wurden.

Nach und nach gab der Schillerplatz einige Kapitel seiner Geschichte preis. Im Juli 1972 stießen die Arbeiter unweit der Alten Kanzlei auf Mauerreste und schließlich auf einen unterirdischen Gang, der in den Keller des Prinzenbaus führte und auf der anderen Seite ins Alte Schloss mündete. Ein Experte des Stadtarchivs entdeckte neben dem Gang eine gewölbte Brunnenstube, die einst zu einer herzoglichen Schlachterei gehörte. Diese wird in historischen Quellen bereits um das Jahr 1350 erwähnt. „Der Sandstein war wunderbar erhalten“, erzählt Rotraut Wolf, die von einem Vorarbeiter, der durch den Schlamm stapfte, huckepack durch den alten Gang getragen wurde.

Dies blieb nicht der einzige bedeutende Fund unter dem Schillerdenkmal, das für die Bauzeit an einen sicheren Ort gebracht worden war. Als die Arbeiter auf die Reste des Gundelfingischen Steinhauses stießen, in dem einst der Philosoph und Humanist Johannes Reuchlin gelebt hatte, ruhten die Bauarbeiten vier Tage lang. „Mehr Zeit blieb nicht, um die Mauerreste zu untersuchen“, erinnert sich Rotraut Wolf, „anschließend wurde alles abgebrochen.“

Kampf um den historischen Kern der Stadt

Die Denkmalschützer und die Mitarbeiter des Stadtarchivs führten 1972 einen Kampf um den historischen Kern der Stadt, den sie nicht gewinnen konnten – ihnen fehlten die Mittel für eine Grabung, und die Politiker behandelten die Stadtgeschichte mit nachrangigem Interesse. Keine drei Jahrzehnte nach dem Kriegsende wollten sie nach vorn schauen, nicht zurück. Auch nicht in die ferne Vergangenheit.

Rotraut Wolf hat das alles keine Ruhe gelassen. Sie sammelte alte Zeitungsartikel, sichtete Dokumente und sprach mit einer Tübinger Historikerin über den Schillerplatz. Die wiederum motivierte eine ihrer Studentinnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Nach langer Recherche legte Kathrin Burbulla in Tübingen ihre Magisterarbeit vor: „Der Fall Schillerplatz in Stuttgart“. In ihrer Arbeit, die in der Landesbibliothek einzusehen ist, schildert Burbulla, wie sich wirtschaftliche und politische Interessen verweben – und die Geschichte dabei unter die Räder kommt.

Brief von Arnulf Klett

Das interessanteste Dokument ist ein Brief des damaligen Oberbürgermeisters Arnulf Klett, der den Bau der Tiefgarage unbedingt durchsetzen wollte. Am 6. Juni 1972 forderte er mehrere Stadtdirektoren „dringend“ dazu auf, an einer Verhandlung teilzunehmen, die das Institut für Baugeschichte der Stuttgarter Universität einberufen hatte. Klett vermutete, dass die Historiker sich quer stellen könnten. Es gelte jedoch „mit allem Nachdruck jede Verzögerung zu vermeiden“. Diese Passage ließ Arnulf Klett sogar unterstreichen. Er beendete sein Schreiben mit der Mahnung: „Es darf nichts schiefgehen.“

Es kam, wie er es wollte. „Klett hat den Bau der Tiefgarage vorangetrieben“, erinnert sich Rotraut Wolf, „und so wie er dachten damals viele.“ So musste sie 1972 mit ansehen, wie die Bauarbeiter zuerst die Pfeiler einer alten Brücke entdeckten – nur um diese kurz darauf in das Fundament für die Tiefgarage einzubetonieren. Bis ins späte 18. Jahrhundert war das Alte Schloss ein Wasserschloss gewesen. Im einstigen Graben entdeckten die gelegentlich auf der Baustelle anwesenden Historiker Meissener Porzellan, Steinkrüge, Perlen, Münzen und Ofenkacheln aus dem 16. Jahrhundert.

Im Untergrund erwachte für wenige Wochen die Vergangenheit. Beweise für eine Besiedlung im frühen Mittelalter wurden damals nicht entdeckt. „Dafür hätte man vermutlich tiefer graben müssen“, sagt Rotraut Wolf. So bleibt in der Gründungsgeschichte der Stadt eine Leerstelle – wegen einer Tiefgarage. Eine unterirdische Geschichte: der Sündenfall Schillerplatz.