Werner Neumannprivat - Werner Neumann (62) ist
promovierter Physiker und war mehr als 20 Jahre lang Leiter der Energieagetur der Stadt Frankfurt. Zuvor hatte er sich intensiv mit den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auf Mensch und Umwelt befasst . Seit rund zehn Jahren ist er ehrenamtlich als Strahlenschutzexperte beim Umweltverband BUND tätig.
Herr Neumann, warum sehen Sie die Deponierung von freigemessenem Bauschutt atomarer Anlagen so kritisch?
Radioaktivität ist grundsätzlich gesundheitsschädlich. Man sollte solche belasteten Stoffe gebündelt lagern und sie nicht breit unters Volk bringen, getreu dem Lied „Das macht doch nichts, das merkt doch keiner“ von Hans Scheibner.
Rein rechtlich handelt es sich aber um nicht-radioaktive Reststoffe . . .
Das ist falsch, die Stoffe sind radioaktiv, aber nicht als solche deklariert, ein Risiko ist daher immer gegeben. Das Konzept der Freimessung geht auf die Atomwirtschaft zurück. Als klar wurde, dass es wegen des AKW-Rückbaus riesige Mengen an belastetem Bauschutt geben wird, wollte die Politik eine kostengünstige Lösung. Sonst hätte man ein großes Ablagerungsproblem.
Und wo liegt das Kernproblem?
Die Freigabe solcher Stoffe für Deponien oder sonstige Nutzungen widerspricht dem Grundsatz des Strahlenschutzes: Risiken sollen minimiert werden.
Sind die Stoffe überhaupt belastet?
In jedem Fall. Das Konzept der Freimessung setzt hier eine Grenze der zugemuteten Belastung. Es basiert auf theoretischen Annahmen und mathematischen Modellen. Die früher angesetzten Risikofaktoren sind überholt. Die Risiken liegen zehn- bis 20-mal höher, und die Mengen aus zig Atomkraftwerken sind deutlich größer. Die Begründungen sind nicht mehr haltbar.
Es scheint aber doch einen großen Puffer aus Unwahrscheinlichkeiten bei der Risiko-Abschätzung zu geben.
Auf den ersten Blick ja. Aber ich sehe in den Modellen ein Kartenhaus, sobald man einzelne Annahmen hinterfragt, bricht alles zusammen. Man ist da schnell nicht mehr auf der sicheren Seite.
Dennoch sind die Risiken bei Alltagsdingen wie Autofahren womöglich höher, oder?
Das halte ich für ein gefährliches Argument. Man muss nicht jedes vermeidbare Risiko hinnehmen, nur weil es größere Risiken gibt. Wer ins Auto steigt, kann sich anschnallen oder vorsichtig fahren. Bei den Reststoffen von Atomanlagen wissen die Betroffenen manchmal nicht mal, welchen Risiken sie ausgesetzt werden. Vor Radioaktivität, die nicht als solche deklariert ist, kann man sich noch nicht einmal schützen.
Als BUND-Mitglied sind Sie sicher auch für die Energiewende. Was würden Sie mit den vielen 1000 Tonnen Schutt aus abgerissenen Anlagen machen?
Man müsste die Stoffe gebündelt lagern, am besten neben den alten Atomkraftwerken oder in speziellen, besonders geschützten Deponien. Aber man müsste vorher erst mal wissen, welche Bereiche des alten Kraftwerks wie stark von Strahlung belastet ist. Diese Informationen werden dem BUND beim Kraftwerk Biblis vorenthalten.
Aber das wissen die Betreiber doch?
Nein, leider nicht. Es wird nicht gemessen, sondern gerechnet. Die tatsächliche Belastung soll erst während des Abrisses festgestellt werden. Es fehlt an Transparenz. So lange eine zentrale Studie zum Freigabekonzept nicht veröffentlicht wird, ist damit auch jeder rechtliche Zugriff darauf verbaut. Ich schreibe jede Woche an die Bundesumweltministerin Hendricks, sie antwortet aber nicht. Kein Wunder, dass es viele Leute gibt, die beunruhigt sind.
Nützt es dann überhaupt noch, wenn Gutachter auf den Deponien in Schwieberdingen und Vaihingen messen?
Nein, nicht wirklich. Viele Radionuklide sind nicht oder nur mit riesigem Aufwand messbar. Ein Nachweis wäre so aufwendig, dass das Gutachten praktisch unbezahlbar teuer würde. Eine Messung der Belastung muss direkt am Reaktor erfolgen. Und dort sollten, zumindest ganz pragmatisch, die Grenzwerte um ein vielfaches abgesenkt werden, um tatsächlich auf der sicheren Seite zu sein. Und beim geplanten Strahlenschutzgesetz muss das Thema Freigabe grundlegend neu konzipiert werden.