Der neue Online-Bildatlas #last seen zeigt letzte Aufnahmen von Menschen im Dritten Reich vor ihrer Deportation. Sie dokumentieren – wie die Fotos aus Asperg im Kreis Ludwigsburg – , dass die Abtransporte oft vor aller Augen stattfanden.
Ein langer Zug von Menschen kommt die Straße vom Hohenasperg herunter Richtung Ortsmitte. Sie tragen Koffer, viele haben kleine Kinder an den Händen. Die Ordnungspolizei beaufsichtigt den Zug. Auf dem gegenüberliegenden Gehweg schauen Leute zu. Zwei Frauen in Kittelschürzen, die Hände in die Seiten gestemmt. Ein Mann, der an ein Fahrrad lehnt. Der Menschenzug ist auf dem Weg, der für fast niemanden zurückführt. Es ist Mai 1940. Die Nazis schicken diese Menschen in die Zwangsarbeit und in die Vernichtung.
Das Foto und weitere Aufnahmen aus Asperg finden sich im neuen digitalen Bildatlas der Onlineplattform #last seen, also sinngemäß „zuletzt gesehen“. Es ist ein Forschungs- und Bildungsprojekt von fünf Forschungsinstitutionen aus Deutschland und den USA, das erstmals alle Bilder der Deportationen aus dem damaligen Deutschen Reich zwischen den Jahren 1938 und 1945 systematisch erfassen, erschließen und digital zugänglich machen will. Vor wenigen Tagen ist der Bildatlas online gegangen.
Die Projektleiterin Alina Bothe ist zwar geschlaucht von der Rekordzeit von nur rund 18 Monaten, in der Historikerinnen und Historiker hunderte Fotos und Informationen von NS-Deportationen aus mehr als 60 Orten zusammengetragen haben: „Die normale Laufzeit für so ein Projekt wären fünf Jahre gewesen“, sagt sie. Aber sie ist erfüllt vom Ergebnis der Recherchen. Und die Historikerin und Politikwissenschaftlerin vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung geht davon aus, dass das erst der Anfang ist.
Mehr als ein Dutzend Fotos gibt es alleine aus Asperg
Aus Asperg sind mehr als ein Dutzend Fotografien im digitalen Bildatlas zu sehen. Sie zeigen Menschen im Innenhof der Festung Hohenasperg, in den Straßen und am Bahnhof. Die Fotos sind – als bisher einzige von mehr als 200 Motiven aus verschiedenen Städten – farbig und wirken dadurch irritierend gegenwärtig. „Farbdias waren extrem teuer, vermutlich hat sie ein Fotograf der Rassenhygienischen Forschungsstelle gemacht“, sagt Alina Bothe über diese Aufnahmen. Auf dem Festungsberg untersuchten Mitarbeiter dieser Forschungsstelle zwangsweise dorthin gebrachte Sinti und Roma und entschieden über ihre Deportation.
Wie diesem Fall handelt es sich auch bei nahezu allen anderen Fotos im digitalen Bildatlas um Täterbilder, die „die Menschen in demütigenden, dehumanisierenden Situationen zeigen“, so Bothe. Nur ganz vereinzelt gebe es Fotografien – nicht aus Asperg – , die aus der Distanz gemacht wurden. Das belege zwar nicht, dass die Urheber gegen diese Aktionen gewesen seien, „aber es ist zumindest zu vermuten, dass sie von Menschen gemacht wurden, die dabei nicht gesehen werden wollten oder sich das öffentliche Fotografieren nicht trauen konnten“, sagt die Projektleiterin.
Die Deportationen fanden vor aller Augen statt
Die Bilder dokumentieren aber auch etwas anderes: Wie viele Menschen Zeugen dieser sogenannten „Evakuierungen“ und Abtransporte waren und zuschauten, wie Menschen auf Plätzen, in Gaststätten oder an Bahnhöfen versammelt wurden. „Allen muss klar gewesen sein, dass es nichts Gutes heißen kann, wenn Familien, wenn Kinder unter Polizeibewachung zusammengetrieben und auf diese Weise behandelt werden. Es war offensichtlich, dass das kein reguläres Polizeihandeln war. Manche haben offen applaudiert“, sagt Alina Bothe. Kinder und Erwachsene, Gruppen und Einzelpersonen, Uniformierte und Zivilisten, Menschen, die stehenblieben oder weitergingen, Aktive und Passive, Hinsehende und Wegsehende: „Ihre Anwesenheit auf vielen Fotos beweist, dass die Deportationen aus dem Deutschen Reich vor aller Augen stattfanden“, so Bothe.
1700 deutsche Archive schrieben die Wissenschaftler für die Recherche an, lasen sich zum Beispiel aber auch systematisch durch entsprechende Literatur – darunter zahllose lokale Publikationen in kleinen Auflagen, etwa zu Stolperstein-Verlegungen oder zu ortshistorischen Spaziergängen. Bei den Recherchen kam auch bisher unentdecktes Fotomaterial zutage – auch durch Kontakte zu Nachkommen von Deportierten. Denn von den Opfern überlebten die wenigsten. „Von manchen haben wir noch letzte Postkarten“, sagt Bothe. Fast immer sind diese Bilder die letzten Zeugnisse ihres Lebens.
Die Menschen auf den Asperger Fotos wurden am 22. Mai 1940 wurden mit einem Zug nach Jędrzejów im damaligen Distrikt Radom deportiert und von dort aus in Lager und Ghettos gebracht, um Zwangsarbeit zu leisten. Viele starben an Hunger, Krankheit oder Misshandlungen. Andere wurden gezielt ermordet. „Zu Asperg haben wir mittlerweile noch ein paar Hinweise bekommen, die wir noch einarbeiten“, sagt Alina Bothe. „Und vielleicht kommen ja noch weitere, wenn Menschen sich die Bilder ansehen.“
Die Erinnerung wach halten
Gemeinsam geforscht
Den digitalen Bildatlas und ein interaktives Entdeckungsspiel für Jugendliche kann man online unter www.lastseen.org entdecken. #last seen ist ein Projekt der Arolsen Archives, der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, der Public History im Kulturreferat der Landeshauptstadt München, des USC Dornsife Centers for Advanced Genocide Research, Los Angeles und des Zentrums für Antisemitismusforschung, TU Berlin. LastSeen wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft und dem Bundesministerium der Finanzen im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht gefördert.
Hinweise gesucht
Der Bildatlas wird laufend ausgebaut. Aktuell besteht er aus 33 Bildserien und 230 Biografien. Aus der hiesigen Region sind es Dokumente aus Asperg und Stuttgart. Die Historiker hoffen auf weiteres Material oder Hinweise zu Situationen oder Personen auf Bildern unter E-Mail lastseen@arolsen-archives.org.