Von der Landesliga bis in die Bundesliga, und das ohne Milliardär im Hintergrund: Wie konnte es der 1. FC Heidenheim so weit bringen? Eine Spurensuche auf der Alb.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Streaming-Dokumentationen über Fußballvereine gibt es wie Sand am Meer: Wer sich etwa die Amazon-Prime-Dokumentation „All or nothing“ über Arsenal London anschaut, lernt einiges über nachhaltige Mobilität in Form von goldenen Lamborghinis und anderen Fußballer-Kleinwagen. Wer dagegen „Sunderland `til I die“ bei Netflix streamt, erfährt viel über den rauen Nordosten von England und dessen leidensfähige Ureinwohner.

 

In seltenen Fällen ist das echte Leben spannender als eine Serie, zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb: Die Geschichte des 1. FC Heidenheim ist so unglaublich, dass sie kein Drehbuchautor erfinden könnte. 1994 übernimmt der damalige Spieler Holger Sanwald den Heidenheimer Sportbund, den Vorläufer des FCH, als Abteilungsleiter Fußball in der Landesliga. Heute ist Sanwald, den seine Freunde „Holle“ rufen, Vorstandsvorsitzender eines etablierten Zweitligisten und gestaltet als Mitglied des DFB-Vorstands den deutschen Fußball mit.

Hohe Jan- und Tim-Dichte

2019 die knappe 4:5-Niederlage gegen Bayern München im Viertelfinale des DFB-Pokals. Der knapp verpasste Aufstieg in die Bundesliga 2020, als man gegen Werder Bremen in der Relegation zweimal Unentschieden spielte und nur wegen der damals noch geltenden Auswärtstorregel in der zweiten Liga bleiben musste. Die ausverkauften Flutlichtspiele gegen Darmstadt und St. Pauli oder Tim Kleindiensts vier Tore beim 5:0 gegen den 1. FC Nürnberg in der aktuellen Saison: Holger Sanwalds FCH klopft an die Tür zur Bundesliga und das mit einem Konzept, das einmalig ist im deutschen Profifußball.

Die Jan- und Tim-Dichte im Kader ist so hoch wie sonst nirgendwo. Während bei anderen Vereinen manchmal fast so viele Dolmetscher wie Spieler auf dem Platz stehen, heißt es beim FCH: Man spricht Deutsch. Das Beuteschema der Heidenheimer sind Spieler, die in der Kleinstadt – die rund 50 000 Einwohner würden komplett ins Stadion des VfB Stuttgart passen – nicht durchdrehen, wenn der Nebel in den Wintermonaten nicht verschwinden will und echter Schnee fällt. Und deren Spielerfrauen beim Anblick der Heidenheimer Fußgängerzone nicht vor Schreck tot umfallen, weil sie zum Überleben kein Gucci-Ghetto vorfinden.

In England wird die Qualität eines Fußballprofis auch daran gemessen, ob er „on a cold and rainy night in Stoke“ bestehen kann, in einem regnerischen Auswärtsspiel beim wenig mondänen Club Stoke City. Vielleicht gibt es in der Bundesliga ja bald ein ähnlich geflügeltes Wort: „Packt er es an einem nasskalten Nebel-Tag in Heidenheim?“, im höchstgelegenen Fußballstadion im deutschen Profifußball, 555 Meter über dem Meeresspiegel?

Es ist diese Höhe, die das Bogotá der Ostalb besonders macht. Wer einmal den Albtrauf hochgekraxelt ist, der weiß, dass man in Heidenheim jede Menge rote Blutkörperchen braucht, um zu bestehen. In der aktuellen Saison legen die FCHler die ligaweit beste Laufleistung an den Tag: Nach 28 Spieltagen sind sie fast 3400 Kilometer den Platz hoch- und runtergerast.

Hohe Familiendichte im Stadion

Ein eiskalter Tag im April, der dem Monat ein bisschen zu strebermäßig entsprechen möchte: Morgens sechs Grad und Regen aus allen Richtungen, nachmittags Sonnenstrahlen und ein eisiger Wind, der die alte Weisheit bestätigt: Auf der Alb ist es immer einen Kittel kälter.

Der Platz vor der Voith-Arena ist heute Kleinstadtmittelpunkt: Aus allen Himmelsrichtungen kommen Soccer-Mums und -Dads angerollt. Sie liefern Kinder ab, die sich auf drei Tage Fußballschule in den Ferien freuen. Aufgeregte Neunjährige und entspannte Eltern, die wissen, dass ihre Kinder hier gut aufgehoben sind, diskutieren die Morgenlage. Die Familiendichte ist auch an Spieltagen erstaunlich hoch in der Arena.

Holger Sanwald dreht mit seinem Berner Sennenhund Ida eine Runde ums Stadion, das von Wald umgeben ist. Wenn Sanwald unterwegs ist, wird geklatscht: Der baumlange Vereinschef wird begleitet vom Klang des Sportlergrußes. Hier werden nicht businessmäßig Hände geschüttelt oder großstädtisch Getto-Fäuste verteilt, beim Sportlergruß wird die Hand schräg nach oben mit leichtem Topspin in die des Gegenübers geschlagen.

Sanwald muss viele Sportlergrüße verteilen, an Spieler, die zum Training gehen, an Eltern, die ihre Kinder abliefern, an Vereinsmitarbeiter, die unterwegs sind. Wenn er auf jeden einzelnen eingeht, wird klar: Sanwald ist ein Menschenfänger, einer, der begeistern kann. „Am Anfang haben wir in Großkuchen oder in Giengen gespielt und auch verloren und auf einmal fährst du quer durch Deutschland“, beschreibt der 55-Jährige die wahnsinnige Reise seines Vereins.

Ohne „Holle“ kein FCH

Spricht man mit Weggefährten und Begleitern, heißt es von allen Seiten: Holle, Holle, Holle, wie ein Remix von Wolfgang Petrys „Wahnsinn (Hölle, Hölle, Hölle)“ mit dem deutlich besseren Text. Ohne den Holle, heißt es, wäre der Verein heute nicht in Liga zwei: Wo in Stuttgart oder Hamburg in den vergangenen Jahren rund 327 Trainer, Manager und Vorstände durchgereicht wurden, hat Sanwald ein Team von Vertrauten um sich geschart und hält seit 2007 an Trainer Frank Schmidt fest, mit seinem schief gelegten Kopf, seinem Markenzeichen, das von einer verknöcherten Halswirbelsäule herrührt.

Macht man abseits der daueraufgeregten Traditionsvereine weniger falsch? „Natürlich habe ich auch Fehler gemacht, nur haben das wenige bemerkt, weil die meisten zu Landesliga- und Verbandsliga-Zeiten passiert sind“, erklärt er. In der Zeit wird aus Sanwalds Hobby Fußballabteilungsleiter Schritt für Schritt eine Profession: „In der Oberliga habe ich bei der EnBW Ostwürttemberg DonauRies auf 50 Prozent reduziert, um mich mit den restlichen 50 Prozent auf den HSB konzentrieren zu können“, sagt Sanwald.

Als der Aufstieg in die Regionalliga gelingt, setzt Sanwald alles auf die Karte Fußball. Die Fußballabteilung des HSB wird 2007 ausgegliedert, der 1. FC Heidenheim wird gegründet: „Auf einmal hatte ich den ganzen Tag Zeit und mehr Energie. Die Doppelbelastung war weg. Dann sind wir von der Regionalliga in die dritte Liga durchmarschiert.“

Das Ganze nicht wie in Hoffenheim mit einem Milliardär, sondern mit einem mittelständischen Bündnis im Rücken: „Wir brauchen in der Spitze leistungsfähige Partner, wir wollen aber eine breite Basis, wo jeder Metzger und jeder Blumenladen sich mit seinen Möglichkeiten bei uns einbringen kann“, sagt Sanwald.

Unterstützung vom Mittelstand

Die Porschetochter MHP und die Heidenheimer Firmen Voith und Hartmann gehen derzeit finanziell vorneweg. Insgesamt hat der FCH aber rund 500 Sponsoren und Partner, damit der Club nicht wie anderswo in finanzielle Schieflage gerät, wenn der einzige Sponsor insolvent geht. Verzeichnet sind die Unterstützer von A wie Autohaus Bierschneider über die Metzgereien Heußler, Illenberger und Mack bis Z wie Zeller Bäderbau in einem über 400 Seiten umfassenden Branchenbuch, einem sensationell schweren Printprodukt.

Das Konstrukt hat den FCH selbst zu einem erfolgreichen Mittelständler gemacht. „Wir haben in Summe hier 45 Millionen Euro in die Voith-Arena und das Trainingsgelände investiert. 18 kamen von der Stadt, 27 aber von uns“, erklärt Sanwald auf den letzten Metern seiner Gassi-Runde. Heute macht der FCH rund 40 Millionen Euro Jahresumsatz.

Dabei vergisst der Club nicht, wo er herkommt: Die Gegengerade wurde um das legendäre Kiosk herumgebaut, das schon zu Amateurzeiten eine Grundversorgung an Wurst und Bier gewährleistet hatte. Dass der Schatzmeister des Vereins deshalb auf Ticketeinnahmen verzichten muss, weil das Festhalten am Kiosk Sitzplätze gekostet hat? Geschenkt. „Es geht um Werte und Vorbilder und um die Frage: Was hält unsere Gesellschaft im Kern zusammen?“, sagt der Vereinsvorsitzende und kehrt mit Ida in sein Büro zurück. Wenn er so redet, könnte man sich Sanwald auch gut als den nächsten Bundespräsidenten vorstellen, Steinmeier sollte sich schon mal warm anziehen. (Steinmeier kann nicht noch einmal zum Bundespräsidenten gewählt werden!)

Weiter geht’s vom Stadion zum Schloss Hellenstein, dem Wahrzeichen der Arbeiterstadt, um gemeinsam mit Spielern die Stadt von oben zu dechiffrieren. Die hier jährlich stattfindenden Opernfestspiele waren vor dem Aufstieg des FCH das Aushängeschild. Von hier oben sieht man auf einen Blick, was Heidenheim ausmacht: Ein nahtloser Übergang zwischen Wohnen und Konsumieren auf der einen und Produzieren auf der anderen Seite der Innenstadt, wo die Firma Voith – Jahresumsatz zuletzt über zwei Milliarden Euro – seine Produktionsstätten hat.

Malochen in der Malocherstadt

Heidenheim ist eine Malocherstadt, und einige der Protagonisten des aktuellen Erfolges, Mittelstürmer Tim Kleindienst, Torwart Kevin Müller und Mittelfeldmann Florian Pick, arbeiten sich durch das Schloss Hellenstein, begleitet vom Pfeifen des Gegenwindes in den Fahnenstangen.

Kleindienst, der seit 2019 beim FCH kickt, unterbrochen von einem halben Jahr bei KAA Gent in Belgien, wo er im Europapokal spielen durfte, spricht über die Vorzüge seiner Wahlheimat. In Gent hatte er vier Trainer in vier Monaten, das Gegenteil von Heidenheim also. In der aktuellen Saison sei er wie die gesamte Mannschaft in einen Flow gekommen, da sei die Euphorie natürlich groß.

Köstliche Falafel und Kaffeeleckereien

Damit hier keiner abhebt, geht es ein paar Meter abwärts: Vom Schloss ist man in wenigen Minuten in Heidenheim-Downtown. Inzwischen ist Kapitän Patrick Mainka zu seinen Mannschaftskameraden dazugestoßen. In einem Schaufenster wird Gold als Wertanlage angepriesen. Die FCH-Spieler albern beim Fotoshooting herum, das bringt eine schwäbische Hausfrau auf den Plan, die unauffällig an der Fensterbank herumwedelt: Wer hier am helllichten Tag Spaß hat, ist verdächtig, besser mal nachschauen.

Parallel zur Fußgängerzone von Heidenheim verläuft die Hintere Gasse: Fachwerkromantik, Kaffee-Rösterei, ausgezeichnete Buchhandlung, köstliche Falafel und über allem thront das Schloss. In diesem malerischen Kleinstadtidyll werden die Spieler entspannt von einem Wirt angesprochen. Es wird gefachsimpelt und geblödelt, mehr Nahbarkeit trotz Profifußball geht kaum, während scheinbar sämtliche Laternenmasten und Stromkästen mit FCH-Stickern vollgekleistert sind.

Früher stand das Kennzeichen von Heidenheim, HDH, für „hinter den Hügeln“, sagen Spötter. Heute interessiert sich sogar die Wissenschaft für den Fußballtraum von der Alb: „Der FCH ist ein eindrucksvoller Indikator dafür, wie ein Verein aufgrund seiner regionalen Verwurzelung kulturelle Ressourcen mobilisiert. Sein kulturelles Kraftzentrum ist sein Heimatbezug. Und da die Ostalb durchaus eine eigene regionale Identität besitzt, für die es aber bislang keine wirklichen Symbole gibt, hat der Verein diese Lücke besetzt“, schreibt Wolfram Pyta von der Universität Stuttgart auf Nachfrage. Der Lehrstuhlinhaber ist einerseits Experte für Hitler und Hindenburg, andererseits auch für Heidenheim, weil der Historiker zur Frage von Fußball und kultureller Identität forscht und publiziert.

Laut Pyta lasse sich der FCH mit dem SC Freiburg vergleichen: „Auch Südbaden war bis zur Karriere des SC Freiburg ab Ende der 1970er Jahre eine verwaiste Region ohne Erst- und Zweitligist, sodass sich die dortigen Fans aus der Not heraus Ersatzvereine suchten“, den Karlsruher Sportclub und natürlich die Bayern, so Pyta weiter: „Die Ostalb ist derzeit auf dem Wege der Emanzipation von der Übermacht des VfB Stuttgart.“

Bruddeln als Teil der DNA

Das sieht auch Fanbeirat Karl-Heinz Kuhn so, den wir an der letzten Station unserer Ostalb-Reise treffen, vor dem FCH-Fanshop in der Fußgängerzone. Die obligatorischen Fielmann- und Nordsee-Filialen sind nicht weit. Kuhn, im Fanbeirat des Vereins aktiv, würde sich vom heimischen SWR weniger VfB und mehr FCH wünschen. Der 65-Jährige war schon zu Oberligazeiten als Anhänger mit dabei: Früher sei er im Außendienst in ganz Süddeutschland unterwegs gewesen, da habe keiner Heidenheim gekannt. Heute könnten die Leute überall etwas mit seinem Verein anfangen.

Dem Wissenschaftler Pyta gibt der Fanbeirat Kuhn recht, wenn es um die regionale Verwurzelung geht, schränkt aber ein, dass der Prophet außerhalb manchmal mehr gilt als in der eigenen Kleinstadt: In Heidenheim seien einige neidisch auf das, was beim 1. Fußballclub der Stadt alles möglich sei. „Es gibt schon auch ein paar Bruddler“, sagt Kuhn, wobei man wissen muss, dass Bruddeln, also Meckern, essenzieller Teil der schwäbischen DNA ist.

Kleindienst für Deutschland

Derzeit wird in der Stadt gebruddelt, ob die Infrastruktur des Vereins erstligatauglich ist. 15 000 Plätze lautet die Mindestkapazität für die Bundesliga, das fasst die Voith-Arena bereits. Es gibt aber zu wenig Sitzplätze: Gefordert sind 8000, aktuell sind es nur rund 4500. Gemäß einer Machbarkeitsstudie wäre die Voith-Arena auf bis zu 25 000 Plätze erweiterbar und natürlich wollen Sanwald und seine Mitstreiter das jetzt machen, wenn der Gemeinderat sie lässt.

Je länger man sich mit dem FCH und seiner Geschichte befasst, desto klarer wird: Die Geschichte dieses Vereins muss doch in einer Streaming-Serie erzählt werden, Arbeitstitel: „Älles oder nix“, die schwäbische Variante von „Sunderland `til I die“. In der ersten Folge der ersten Staffel wäre Trainer Frank Schmidt in der Kabine zu sehen, wie er Tim Kleindienst erklärt, dass er einer für Hansi Flicks Truppe ist. Und nach dem Spiel sitzen Trainer und Vorstandsvorsitzender Sanwald bei geschmelzten Maultaschen in der Stadionbaustelle zusammen und diskutieren darüber, wie der große FC Bayern an einem eiskalten Februarsonntag auf der rauen Ostalb zu schlagen sein könnte.