Schon am nächsten Tag beginnt er mit der Arbeit an seiner „Holy Criminals“-Serie. „Im Atelier kam mir der Gedanke, dass es wertvoll sein könnte, von meiner Schuldlosigkeit und meiner Frustration zu erzählen. Also malte ich fünf Bilder. Als ich beim letzten angelangt war, bemerkte ich, wie sich die Perspektive verändert hatte. Ich war nicht mehr der Mittelpunkt des Ganzen – das waren vielmehr all jene Menschengruppen, die in dieser Welt als Kriminelle angesehen werden, wenngleich sie überhaupt nichts verbrochen haben.“

 

Doch Urgessa erlebt hier nicht nur Entmutigung. Nach seiner Ankunft büffelt er drei Monate lang Deutsch in Mannheim. „Das war echt schwierig.“ Danach geht es los an der Stuttgarter Akademie, Schwerpunkt figürliche Malerei. Dann lernt er Nina Raber kennen. Zwischen dem Äthiopier und der Kunsttherapeutin aus Nürtingen funkt es. Am 20. September 2011 heiraten sie. Weil die Familie des Bräutigams kein Visum bekommt, kann sie nicht dabei sein, dafür gibt es in Addis Abeba später eine zweite Feier. Das Paar bekommt Nachwuchs. Die Tochter Zoe Liya ist inzwischen drei Jahre alt, ein Geschwisterchen wird für Ende Mai erwartet. Einmal im Jahr reist die junge Familie nach Äthiopien. Nina Raber mit ihren blonden Dreadlocks würde gerne auswandern, doch Sorgen um die materielle Absicherung der Familie und die Ausbildung der Kinder stehen diesem Traum noch im Weg.

Zwischen Äthiopien und Deutschland gibt es große mentale und kulturelle Unterschiede. „Sicherheit ist den Menschen hier sehr wichtig. Manchmal glaube ich, dass Sicherheit einen zu hohen Stellenwert hat“, mein Tesfaye Urgessa. „In Deutschland sagen die Leute schon ein Jahr im Voraus, dass sie im nächsten Jahr hier und dort Urlaub machen. Da lachen die Leute bei uns, wenn sie das hören.“

Urgessa mag es eher kühl. In seinem Atelier herrschen gefühlte zehn Grad Celsius, trotzdem trägt er nur ein T-Shirt. „80 Prozent meiner Arbeiten mache ich im Winter. Im Sommer bin ich wirklich faul, die Hitze macht mich fertig“, sagt er. Addis Abeba, nach Mexiko-Stadt die zweithöchst gelegene Hauptstadt der Erde, liegt auf 2300 Metern. Selbst in den heißen Monaten zwischen März und Mai kratzt das Thermometer nur an der 25-Grad-Marke. Meist weht ein frisches Lüftchen.

Die Wiege im Friseursalon

Dort stand Tesfaye Urgessas Wiege. Sein Vater hat einen Friseursalon. Doch Geleta Urgessa kann mehr als schneiden und stutzen. Er ist schon Mitte 40, als er die Bekanntschaft mit einem Künstler macht und schließlich seine eigene künstlerische Ader entdeckt. Der Vater beginnt zu malen, porträtiert die Menschen in der Nachbarschaft. Es dauert nicht lange, bis beinahe in jedem Haus im Viertel gemalte Porträts ihrer Bewohner hängen.

Wer sind diese Figuren, die den Dialog provozieren? „Wenn ich male, versuche ich, in den menschlichen Gestalten nicht bestimmte Personen darzustellen. Da mich die psychische Verfassung des Menschen interessiert, wie sie sich in Beziehung zu politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen herausbildet, sind die Figuren die wichtigsten Elemente meiner Bilder“, sagt Tesfaye Urgessa. „Sie sind eine Art Sprache, ein Gedanke, verkörpert in menschlichem Fleisch. Aus diesem Grund bin ich auch an ihrer Blöße interessiert. Sie deckt einen Teil jener Realität auf, die wir oft hartnäckig, berechnend und künstlich verbergen.“

Ungerechtigkeit macht ihn wütend. Urgessa schildert eine Situation, in der er sich so nackt und verletzlich fühlte wie seine Protagonisten. Eines Tages wird er zusammen mit einem befreundeten Afrikaner in der Stuttgarter U-Bahn von der Polizei kontrolliert. An diesem einen Tag muss er gleich drei Mal seinen Ausweis vorzeigen. Die anderen Fahrgäste mustern die Kontrollierten aus dem Zug heraus. Die letzte Bahn an diesem Tag fährt ohne sie ab. Der Student und sein Begleiter müssen zu Fuß nach Hause gehen. Urgessa fällt kein anderer Grund für die Kontrollen ein als seine Hautfarbe. „Ich war schockiert, weil ich davor noch nie in meinem Leben kontrolliert worden war.“ Die Erfahrung zieht ihn erst einmal runter. „Ich war damals entmutigt von der Vorstellung ständiger Kontrolle. Manche meiner Freunde, die schon länger in Deutschland leben, erzählten mir, dass ich mich mit der Zeit daran gewöhnen würde.“

Eine Liebe in Nürtingen

Schon am nächsten Tag beginnt er mit der Arbeit an seiner „Holy Criminals“-Serie. „Im Atelier kam mir der Gedanke, dass es wertvoll sein könnte, von meiner Schuldlosigkeit und meiner Frustration zu erzählen. Also malte ich fünf Bilder. Als ich beim letzten angelangt war, bemerkte ich, wie sich die Perspektive verändert hatte. Ich war nicht mehr der Mittelpunkt des Ganzen – das waren vielmehr all jene Menschengruppen, die in dieser Welt als Kriminelle angesehen werden, wenngleich sie überhaupt nichts verbrochen haben.“

Doch Urgessa erlebt hier nicht nur Entmutigung. Nach seiner Ankunft büffelt er drei Monate lang Deutsch in Mannheim. „Das war echt schwierig.“ Danach geht es los an der Stuttgarter Akademie, Schwerpunkt figürliche Malerei. Dann lernt er Nina Raber kennen. Zwischen dem Äthiopier und der Kunsttherapeutin aus Nürtingen funkt es. Am 20. September 2011 heiraten sie. Weil die Familie des Bräutigams kein Visum bekommt, kann sie nicht dabei sein, dafür gibt es in Addis Abeba später eine zweite Feier. Das Paar bekommt Nachwuchs. Die Tochter Zoe Liya ist inzwischen drei Jahre alt, ein Geschwisterchen wird für Ende Mai erwartet. Einmal im Jahr reist die junge Familie nach Äthiopien. Nina Raber mit ihren blonden Dreadlocks würde gerne auswandern, doch Sorgen um die materielle Absicherung der Familie und die Ausbildung der Kinder stehen diesem Traum noch im Weg.

Zwischen Äthiopien und Deutschland gibt es große mentale und kulturelle Unterschiede. „Sicherheit ist den Menschen hier sehr wichtig. Manchmal glaube ich, dass Sicherheit einen zu hohen Stellenwert hat“, mein Tesfaye Urgessa. „In Deutschland sagen die Leute schon ein Jahr im Voraus, dass sie im nächsten Jahr hier und dort Urlaub machen. Da lachen die Leute bei uns, wenn sie das hören.“

Urgessa mag es eher kühl. In seinem Atelier herrschen gefühlte zehn Grad Celsius, trotzdem trägt er nur ein T-Shirt. „80 Prozent meiner Arbeiten mache ich im Winter. Im Sommer bin ich wirklich faul, die Hitze macht mich fertig“, sagt er. Addis Abeba, nach Mexiko-Stadt die zweithöchst gelegene Hauptstadt der Erde, liegt auf 2300 Metern. Selbst in den heißen Monaten zwischen März und Mai kratzt das Thermometer nur an der 25-Grad-Marke. Meist weht ein frisches Lüftchen.

Die Wiege im Friseursalon

Dort stand Tesfaye Urgessas Wiege. Sein Vater hat einen Friseursalon. Doch Geleta Urgessa kann mehr als schneiden und stutzen. Er ist schon Mitte 40, als er die Bekanntschaft mit einem Künstler macht und schließlich seine eigene künstlerische Ader entdeckt. Der Vater beginnt zu malen, porträtiert die Menschen in der Nachbarschaft. Es dauert nicht lange, bis beinahe in jedem Haus im Viertel gemalte Porträts ihrer Bewohner hängen.

Wie sich herausstellt, hat der Vater sein Talent weitervererbt – an Tesfaye und an dessen drei Jahre älteren Bruder Asrat, der sich als Animationszeichner für Trickfilme einen Namen macht. Mit 17 entscheidet sich Tesfaye gegen ein solides Architekturstudium und für das materiell riskantere Künstlerdasein. Nachbarn warnen ihn davor. Doch der Vater gibt ihm Rückendeckung, auch die Mutter mit ihrem Gleichmut steht zu der Entscheidung.

An der „Alle School of Fine Arts“ in Addis Abeba studiert Tesfaye Urgessa Kunst – und sticht durch seine Begabung unter den Kommilitonen hervor. Nach seinem Studienabschluss wird er dort als jüngster Dozent eingestellt. Die Stelle ist nur eine Etappe auf seinem künstlerischen Weg. Urgessa zieht es weiter. Er liebäugelt mit einem Studium in den USA. Dann aber bringen ihn Dozentenkollegen, die einst in der DDR waren, auf die Idee, sich über Deutschland zu informieren.

So stößt Urgessa schließlich auf Cordula Güdemann. Die Zeit mit ihr ist prägend. Urgessa entfernt sich vom Ornamentalen, seine neuen Gemälde stehen in der Tradition eines Francis Bacon oder eines Lucian Freud. Vor zwei Jahren erhält Tesfaye Urgessa den Akademiepreis der Kunstakademie Stuttgart. Und vor einem Jahr schafft er es in das Finale des Wettbewerbs der Kunststudenten der Bundeskunsthalle Bonn.

Kunst schafft Spielraum

Dass Urgessas Bilder Käufer finden, verschafft ihm Spielraum. Nicht immer konnte er von seiner Kunst leben. Immer wieder musste er sich als junger Mann mit Gelegenheitsjobs in der Industrie und in der Gastronomie über Wasser halten. Das machte es schwierig, im Atelier dranzubleiben und den Rhythmus zu halten. Die Anerkennung, die Urgessa zurzeit erfährt, ist für ihn die Bestätigung seines bisherigen Weges. Er will seine Erfahrungen weitergeben. Seit einem halben Jahr vermittelt er als Dozent an der Freien Kunstakademie Nürtingen Grundlagen der Malerei und gibt Seminare im Aktzeichnen. „Ich liebe es zu unterrichten“, sagt er. Was er seinen Studenten noch mitgeben will: „Den Mut, sich zu trauen und immer weiter zu experimentieren.“