Zum Jahrestag des Terroranschlags von Halle wird es eine Gedenkfeier geben. Aber warum überlassen wir so oft Politikern und Betroffenen den Widerspruch gegen Antisemitismus und Rassismus, fragt unsere Korrespondentin Katja Bauer.

Berlin - An diesem Freitag um 12.01 Uhr hält Halle inne. Es ist der Tag, die Uhrzeit, zu der vor einem Jahr der Attentäter Stephan B. mit seinem tödlichen Terrorzug durch die Stadt begonnen hat. Zwei Menschen haben das Verbrechen nicht überlebt, viele andere werden nie mehr dieselben sein wie vorher. Jana L. wurde erschossen, einfach, weil sie in diesen Minuten auf der Straße war. Kevin S. flehte vergeblich um sein Leben, als er am Mittag im Dönerimbiss stand. Mehr als 50 Menschen fürchteten im ersten Stock der Synagoge um ihr Leben. Andere wurden zu Augenzeugen.

 

Viele von ihnen sind traumatisiert. Man sagt das so: traumatisiert – schreibt es hin. Aber man kann in Wirklichkeit nicht ermessen, was das bedeutet: ein anderes, schwereres, auf eine bestimmte Weise für immer unsichereres Leben. Terror trifft immer viele Menschen, die später in keiner Statistik auftauchen. Neulich schilderte eine junge Rabbinerin im Strafprozess, wie dieser Tag das familiäre Trauma des Holocaust reaktiviert habe. Es ist richtig, dass bei den Gedenkfeiern zum Jahrestag die Opfer im Mittelpunkt der Erinnerung stehen.

Es gibt allerdings weitere Zeichen an diesem Tag. Da ist die schwere Synagogentür. Sie allein bewahrte die Welt vor einem Massaker. Diese Tür ist das Zeichen dafür, dass das Land zwar viele schöne Reden hört, aber in der Realität ganz praktisch das Verständnis für die allzeit akute Bedrohung fehlt, mit der Juden hier leben und die in jüngerer Zeit auch andere Minderheiten in Gefahr bringt, besonders Muslime.

Juden leben mit der Bedrohung

In Halle standen am Tag danach die Spitzen des Staates und mussten sich einer bitteren Tatsache stellen: Dieses Land hat es mit einer konkreten Bedrohung durch rechtsextremistischen Terror zu tun. Der Hass nistet sich ein. Die Sicherheitsbehörden sind seit geraumer Zeit nur eingeschränkt in der Lage, diese Bedrohung zu kontrollieren. Sie kämpfen gegen Strukturen, gegen die sie noch nicht ausreichende Mittel haben: blitzschnelle, in Internetforen und Kanälen verborgene Kommunikation, eine Vermischung unterschiedlicher Szenen und führerlose Netzwerke, in denen sich Täter wie Stephan B. auf dem Gamer-Sessel im Kinderzimmer radikalisieren.

Der Hass nistet sich ein

Das ist die eine Seite der Gefahr. Die Anschläge von Kassel, Halle und Hanau sind die gewaltsame Form eines Angriffs auf den Staat, der jedoch auch auf anderen Ebenen, ohne Gewaltanwendung, geführt wird. Dieser Angriff gilt dem Konzept der offenen, vernunftgeleiteten Gesellschaft, in der die Mehrheit hier leben will. Und er spielt sich manchmal sehr bürgerlich und in unserer Nähe ab: Demokratiefeindliche Ansichten, Wahnbehauptungen wie die vom drohenden „Volkstod“, die vom rechten Rand befeuert werden, landen teils erfolgreich in der Mitte der Gesellschaft. Antisemitische Welterklärungserzählungen haben in der Corona-Krise Konjunktur. „Der alte Hass wird salonfähiger“, hat der Chef des Verfassungsschutzes gesagt, als er die Lage beschrieb.

Wenn man sich den alten Hass anschaut, kann man etwas Wichtiges fürs Jetzt lernen: Er trifft heute die eine Gruppe und morgen eine weitere. Was tun? Man wird der Formeln von Politikern müde. Müdigkeit aber hilft nicht. Was vielleicht hilft, ist, selbst den Mund aufzumachen, ungemütlich zu werden, zu widersprechen, wenn man am Kneipentisch, im Verein, am Arbeitsplatz mitbekommt, dass jemand eine Grenze überschreitet. Diejenigen, die betroffen sind, brauchen Leute an ihrer Seite. Das wissen oft andere Betroffene: Es ist zum Beispiel die Jüdische Studierendenunion gewesen, die 30 000 Euro gesammelt hat, damit der Betreiber des Kiez-Döner von Halle wieder durchstarten kann. Das hätte auch anderen einfallen können.

katja.bauer@stzn.de