Kultur: Stefan Kister (kir)

Ihr Vater hat sich als Historiker in der DDR mit der deutschen Geschichte befasst. Sie schreiben Geschichte mit anderen Mitteln. Ihr Buch macht erfahrbar, wie Menschen unter bestimmten historischen Zuständen ticken, auch wenn sie auf den ersten Blick nur wie Zeitbomben erscheinen. Wie weit reicht dieses Verständnis?
Es endet da, wo Menschen einen Gemüsehändler erschießen, weil er aus der Türkei kommt. Aber es ist eine Grundvoraussetzung zu versuchen, den anderen, auch den politischen Gegner, in seinen Motiven zu verstehen. Ich würde sogar sagen, dass man sich bemühen sollte, einen Selbstmordattentäter, der sich bei einem amerikanischen Stützpunkt in Afghanistan in die Luft sprengt, zu verstehen, um sinnvoll damit umgehen zu können. Was natürlich nicht heißt, dies in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Ich glaube, dass gerade Literatur viel mehr als andere Medien die Fähigkeit hat, in die Seele eines anderen Menschen hineinzugehen: dass man anderes Leben nacherleben kann. Das hat mit der Frage der Empathie zu tun. Und das ist eine unglaublich wichtige Frage, wenn es um soziale Verhaltensweisen geht.

Können Sie sich in den rechtsverdrehten Markus in Ihrem Buch einfühlen?
Er ist ja noch kein Rechtsradikaler, man erkennt aber, dass der Weg dahin zumindest offen ist. Sie wollen einem Türken die Reifen zerstechen . . . 

Einem „Scheißtürken“ heißt es im Buch . . .
Er hängt auch im Zimmer ein Hakenkreuz auf, mit der Rechtfertigung, das wären irgendwelche indogermanischen Runen. Aber das Ganze ist noch im Stadium des Probierens, des Mitmachens, es kann sich auch noch wenden. Markus’ Familie geht auseinander. Das Zusammenbrechen von sozialen Kontexten und Sicherheiten ist bei vielen Jugendlichen, die in den Rechtsextremismus abgleiten, gegeben.

Sie haben sich als Pessimist beschrieben. Werden die Räume in Zukunft enger?
Ich habe ein sehr merkwürdiges Gefühl und hoffe, dass es sich als falsch herausstellt. Kurz bevor der Osten zusammenbrach, habe ich an allen Enden gespürt, dass das Ganze nicht mehr funktioniert. Dieser Eindruck verdichtet sich zurzeit bei  mir wieder. Die sich immer weiter auseinanderentwickelnden Einkommen, die vielen, die auf der Strecke bleiben, im kleinen wie im globalen Maßstab, das Diktat der Finanzmärkte, die ungelösten Klimaprobleme, für mich sind das alles Symptome einer schwerwiegenden Umbruchsituation, die möglicherweise dasjenige, was wir damals in der DDR erlebt haben, noch übertreffen wird.

Wieder Zeiten abnehmenden Lichts?
Das wird sich zeigen.
Das Gespräch führte Stefan Kister.