Roland Kugel aus Plüderhausen ist von Beruf Ballonfahrer. Wann immer das Wetter es zulässt, suchen er und seine Frau Andrea („mein Bodenpersonal“) eine Wiese auf, rollen 2000 Quadratmeter Nylon in Flugrichtung der Seifenblasen aus und blasen mit einem Ventilator 6000 Kubikmeter Luft hinein. Ist der Ballon prall gefüllt, schmeißt Kugel seine drei Brenner an, die mehr Leistung aufbringen als ein ICE-Triebwerk. Das 27 Meter hohe Luftzelt richtet sich mitsamt Passagierabteil auf, ein handgeflochtener Weidenkorb mit 4,5 Quadratmeter Grundfläche. Dann müssen die Passagiere rasch über den 1,30 Meter hohen Korbrand klettern, bevor der 1,3 Tonnen schwere Flugkörper abhebt.
Einst Superstars der High Society
Der Ballonfahrer führt im Beruferanking eine Randexistenz. Als die Kugels nach Ausbruch der Pandemie bei offiziellen Stellen nachfragten, welche Regeln denn für die Ballonfahrtbranche gelten, fragte die Frau am Ende der Leitung: „So etwas gibt es?“
Dabei waren die Ballonfahrer einst die Superstars der High Society– tollkühne Männer, die sich im vorletzten Jahrhundert im Dienste der Wissenschaft mit Rekorden überboten. Bis heute hält der deutsche Meteorologe Arthur Berson mit seiner Ballonfahrt im Jahr 1901 auf 10 800 Meter Höhe den Weltrekord bei Fahrten in einer offenen bemannten Gondel. In dieser Zeit brach in Deutschland denn auch das Ballonfieber aus. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Luftfahrtvereine von sieben auf 46 und die der Ballone von zwölf auf mehr als 100.
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Zum Geldverdienen taugte die Ballonfahrt damals allerdings nicht. Die Hüllen wurden mit kostspieligem Wasserstoffgas befüllt. Selbst besser verdienende Vereinsmitglieder, so berichtete der Physiker Ernst Wandersleb, der bei Carl Zeiss in Jena angestellt war, mussten für eine Fahrt „einen ganzen Monatslohn berappen“. Erst seit den 1980er Jahren, seit der Renaissance des Heißluftballons, werden Ballonfahrten für Touristen angeboten. „Der Heißluftballon hat viel geringere Betriebskosten“, erklärt Frank Kruspel, selbst Ballonpilot, vom baden-württembergischen Luftfahrtverband. Und erst mit der Erfindung des Brenners, der die Ballonluft erhitzt, müssen Passagiere nicht mehr um ihr Leben bangen. „Zu Beginn hatten die Körbe in ihrer Mitte eine offene Feuerstelle, in die man alles reinschmiss, was ordentlich Rauch machte – Schuhsohlen, Schafswolle, Strohballen“, erzählt Frank Kruspel. Vor 240 Jahren glaubten die Erfinder des Heißluftballons nämlich, dass schwarzer Rauch für den Auftrieb sorge.
Der Gasballon verdrängte den Heißluftballon
An einem Abend im Jahr 1782, als der feuchte Seidenrock der Gattin des französischen Wissenschaftlers Joseph Michel Montgolfier am Kamin hing, schoss eine Windböe durchs Ofenrohr und bauschte das Textil auf. Das soll die Brüder Joseph Michel und Jacques Étienne Montgolfier darauf gebracht haben, dass mit Rauch gefüllte Gefäße aufsteigen – so wird es zumindest überliefert. Fest steht, dass am 19. September 1783 in den Gärten von Versailles unter den Augen von König Ludwig XVI und seiner Frau Marie Antoinette die erste Passagierfahrt in einem Ballon stattfand. An Bord des Papierballons: ein Hammel, ein Hahn und eine Ente. Sie überlebten den Flug unbeschadet. Wenige Tage wurde ein mit Wasserstoff gefüllter Ballon präsentiert, mit dem sein Erfinder 43 Kilometer zurücklegte – viermal mehr als die Konkurrenz. Der Gasballon, der nicht nur länger oben bleibt, sondern auch durch den Abwurf von Sandsäcken leichter aufsteigt, verdrängte seinen Vorgänger aus dem Rampenlicht.
Im Himmel zuhause seit fast 50 Jahren
Als in den 1980er Jahren die ersten Touristen zum Himmel aufstiegen, war Roland Kugel längst da oben zu Hause. 1973 saß der damals 17-Jährige gebannt vor dem Fernseher, als der Amerikaner Mike Harker mit einem Drachen von der Zugspitze sprang. Bald darauf fuhr er fast jedes Wochenende mit einem Freund „zum Drachenfliegen“ ins Allgäu – zur Verwunderung der Mutter, die lange glaubte, ihr Sohn begeistere sich wieder für Schnurdrachen. Nach dem Drachen kam der Gleitschirm, nach diesem das Ultraleichtflugzeug, dann der Segelflieger, die Cessna und schließlich Mitte der 90er Jahre der Heißluftballon. „Ein Bekannter nahm mich mal mit. Mir war sofort klar: Das will ich auch können.“ Kurz nach der Ausbildung stieg Kugel ins Ballonbusiness ein. Anfangs ging er nur an Wochenenden in die Luft, unter der Woche arbeitete er als Handelsvertreter. Dann nahmen die Anfragen zu, bis Roland Kugel im Jahr 2000 den Job ganz aufgab und nur noch Ballon fuhr.
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Von seiner Sorte gibt es nicht mehr viele. Frank Kruspel sagt, dass in ganz Baden-Württemberg von 150 Piloten nur etwa 35 Inhaber eines Luftfahrtunternehmens sind und davon auch nur zehn hauptberuflich ihren Lebensunterhalt verdienen. „Uns fehlt der Nachwuchs“, sagt Kugel, der sofort einen Piloten anstellen würde, wenn es einen Kandidaten gäbe. Vielleicht schrecke die Jungen die Unsicherheit ab, die der Beruf mit sich bringe. Damit meint Kugel nicht das Unfallrisiko – seine Bilanz nach 2500 Fahrten: ein verknackster Fuß, weil ein Passagier nach der Landung vom Korbrand auf die Wiese hüpfte. Er denkt vielmehr an den Klimawandel, das zunehmend unbeständige Wetter wie in diesem Sommer. Nach dem letzten Lockdown konnten die Kugels während der gewöhnlich umsatzstärksten Monate – Juli und August – wegen des schlechten Wetters nur wenige Fahrten machen. „Ich schiebe eine Bugwelle an verschobenen Terminen vor mir her“, sagt Andrea Kugel, die das Organisatorische der Firma erledigt. Reservierungen nehme sie erst wieder für das nächste Frühjahr an.
Schwarzfahrer in der Mantelinnentasche
Wenn das Wetter aber mitspielt, wird morgens und abends Ballon gefahren. „Nach zehn Tagen sehnt man sich dann schon mal nach Schlechtwetter“, sagt Roland Kugel. Laue Sommernächte verbringt er selten im Liegestuhl auf der Terrasse. Trotzdem kommt für ihn kein anderer Beruf infrage. „Würde ich nicht lieben, was ich mache, würde sich der Aufwand nicht lohnen.“
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In seinem Weidenkorb nahm Kugel schon den ganzen Querschnitt der Gesellschaft mit – vom 100-Jährigen, der sich zum runden Geburtstag einen Kindheitstraum erfüllte, bis zum Vierjährigen, der mit seinem Nintendo dann lieber am Boden kauerte. Auch Hunde waren schon an Bord, sowohl ein blinder Passagier, gut versteckt in der Mantelinnentasche, als auch ein offizieller Fahrgast. Roland Kugel trat aus Versehen in seinen Wassernapf.
Heiratsanträge im Ballon bergen Risiken
Was für die Kugels Arbeitsroutine ist, empfinden viele Passagiere als Höhepunkt, wenn nicht gar als den wichtigsten Tag im Leben. „Romantik-Exklusiv“ heißt das Angebot für Verliebte, für die der noch intimere Zwei-Quadratmeter-Weidenkorb bereitsteht. Nur der Pilot darf noch mit an Bord.
Viele nutzen das Angebot für Heiratsanträge. Andrea Kugel fragt dann immer vorher ab, ob der Antragstellende auch sicher sei, die richtige Antwort zu erhalten. „Beim Kollegen fiel sie einmal negativ aus.“ Danach herrschte eisiges Schweigen, und der Pilot war erleichtert, als er landen konnte. Unten blieb dann auch keiner der beiden da, um noch beim Einpacken zu helfen. „Heiratsanträge bergen gewisse Risiken“, sagt Kugel und erzählt, wie mal ein Antragsteller kurz nach der wichtigen Frage vor Aufregung ohnmächtig wurde. „Der Mann hatte den ganzen Tag nichts getrunken – für solche Fälle haben wir stets Wasser an Bord.“ Auch Ballonpilot Frank Kruspel hat schon einigen Heiratsanträgen beigewohnt. „Ich könnte danach auch über Gewerbegebiete fahren“, sagt er. „Die Pärchen sind so mit sich beschäftigt, die kriegen nichts mehr mit.“
Dann blutet den Profis ein wenig das Herz. Denn die Faszination am Ballonfahren ist für sie sprichwörtlich – „über den Dingen zu schweben“, wie sie sagen. Mit jedem Meter schwindet die Last des Alltags. Was bleibt, ist die Leichtigkeit des Seins.