Bastian Keller aus Markgröningen erzählt, was ihm Behinderten-Boccia bedeutet: Folge 45 der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Region: Verena Mayer (ena)
Markgröningen - Der Koffer ist fast fertig gepackt, nicht mehr lange, dann geht der Flieger nach Montreal. Bastian Keller ist wild entschlossen, beim Behinderten-Boccia-Turnier wichtige Weltranglistenpunkte zu holen. Bastian Keller ist auch wild entschlossen, mit seiner Nationalmannschaft eines Tages bei Olympischen Spielen anzutreten. Bis dahin muss allerdings noch einiges passieren. Vor allem muss Boccia in Deutschland noch sehr viel populärer werden. Selbst Bastian Keller hat das Spiel erst vor Kurzem kennengelernt. Inzwischen hat er einen Titel als Deutscher Meister. Doch außer ihm weiß das fast niemand.
Herr Keller, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich bin 32 Jahre, lebe in Markgröningen und arbeite als Fachinformatiker. Ich bin mit einer spinalen Muskelatrophie auf die Welt gekommen, das bedeutet, meine motorischen Nervenzellen im Rückenmark bilden sich zurück. Seit ich zwölf war, sitze ich im Rollstuhl. Allerdings meistere ich meinen Alltag im Großen und Ganzen alleine. Beim TV Markgröningen trainiere ich eine Frauenhandballmannschaft, vor gut drei Jahren habe ich dort Boccia durch einen Zufall für mich entdeckt. Im Herbst bin ich Deutscher Meister im paralympischen Boccia geworden. Hätte mir das vor drei Jahren einer gesagt, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Welcher Zufall hat Sie zum Boccia geführt?
Im Herbst 2012 hat der TV Markgröningen die Deutsche Meisterschaft ausgerichtet und dafür Helfer gesucht. Als Vereinsmensch habe ich mich selbstverständlich gemeldet und bin als Zeitnehmer eingeteilt worden. Ich saß also mit einer Stoppuhr am Spielfeldrand, habe sie gedrückt, wenn ein Spieler mit seinem Wurf beginnen durfte, und wieder, wenn der Ball ruhig auf dem Feld lag. Ich dachte die ganze Zeit nur: Oh mein Gott, was ist das für ein langweiliger Sport! Man muss dazu wissen, dass es im paralympischen Boccia vier verschiedene Startklassen gibt. In eine davon – die, in der ich Zeitnehmer war – sind Spieler eingeteilt, die aufgrund ihrer Einschränkung nicht mal selber werfen können. Die lassen den Ball eine Rampe runterrollen. Die Rampe wiederum richtet ein Assistent genau nach den Anweisungen des Spielers aus: weiter rechts, weiter links, höher, tiefer. Das dauert ewig, eeeewig!
Und doch sind Sie dabeigeblieben. Warum?
Ich war schon lange auf der Suche nach einer Sportart gewesen, die ich selber aktiv betreiben kann. Rollstuhl-Basketball oder Rugby kamen für mich wegen meiner Behinderung nicht infrage. Also habe ich schließlich den Markgröninger Boccia-Trainer angeschrieben und ein Probetraining vereinbart.
Wie funktioniert Boccia überhaupt?
Es gibt zwei Teams mit je sechs Bällen, und es gibt einen weißen Ball, den Jackball. Das Ziel ist es, mit den eigenen Bällen so nah wie möglich am Jackball zu sein. Dieser wird zuerst gespielt, dann folgen, immer abwechselnd, die anderen Bälle. So lange, bis alle gespielt sind. Für jeden Ball, der näher dran ist am Jackball als der erste gegnerische Ball, gibt es einen Punkt. Pro Satz kann man also sechs Punkte bekommen.
Warum gefällt Ihnen Boccia jetzt doch?
Der Sport ist unglaublich packend. Wer nur nebenbei zuguckt, für den sehen die Spiele langweilig aus. Aber wenn man beobachtet, was auf dem Feld passiert, wie sich die Spieler untereinander verhalten, wer wie mit Psychotricks schafft, dann ist Boccia spannend!
Psychotricks?
Oh ja! Zum Beispiel darf man mit seinem Gegner, während er am Zug ist, nicht reden. Aber manchmal bringt es ihn vielleicht schon aus der Ruhe, wenn man ihn von der Seite anstarrt. Oder ein bisschen kichert, wenn ihm etwas misslungen ist, so ganz leise vor sich hin. International wird mit harten Bandagen gespielt.
Sind Sie auch schon auf so etwas reingefallen?
Selbst wenn mich der Gegner aus der Ruhe bringen würde, würde ich mir nie die Blöße geben, das auch nur eine Sekunde lang zu zeigen.
Sie sind kurz nach Ihrem ersten Turnier in den Nationalkader berufen worden. Offenbar sind Sie ein Naturtalent!
Ich spiele nicht schlecht, aber ein anderer Grund für meine steile sportliche Karriere ist bestimmt auch die mangelnde Konkurrenz. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist der TV Markgröningen der einzige Verein, in dem Behinderten-Boccia gespielt wird. Mit sehr viel Wohlwollen geschätzt, gibt es in ganz Deutschland vielleicht 150 Spieler. Aber es könnten sicher sehr viel mehr sein. Die meisten wissen wahrscheinlich gar nicht, dass es diese Sportart gibt. So wie ich damals. Und ich glaube nicht, dass ich der einzige behinderte Mensch in Deutschland war, der einen passenden Sport gesucht hat. Boccia muss dringend bekannter werden!
Warum ist Ihnen das so wichtig?
Deutschland ist, was Boccia angeht, ein Entwicklungsland. Eine Folge davon ist, dass wir bei internationalen Turnieren im Einzel nur einen Startplatz bekommen – auch wenn sich mehr Spieler qualifiziert haben. Das ist unbefriedigend, und Weltranglistenpunkte für Olympia kann man auch nicht sammeln.
Kommen Sie als Mitglied der Nationalmannschaft viel in der Welt herum?
Dieses Jahr spielen wir drei World-Open-Turniere, da geht es also um Ranglistenpunkte. Das erste Turnier findet in Montreal statt, dass zweite in Dubai, das dritte in der Nähe von Porto in Portugal. Leider sieht man von den Städten nichts, weil man die ganz Zeit mit Boccia beschäftigt ist. Die Sporthalle könnte auch in Schwieberdingen stehen.
Wer bezahlt die Teilnahme an den Wettkämpfen, der Deutsche Olympische Sportbund?
Jein. Unser Dachverband, der Deutsche Behindertensportverband, finanziert die Nationalmannschaft. Allerdings ist der Etat so gering, dass es gerade für ein Turnier pro Spieler und Jahr reicht. Die Turniere in Montreal und Dubai finanziere ich deshalb aus eigener Tasche.