Der Biathlon-Star weiß nicht genau, wo er sein Leistungsvermögen einordnen soll – daran könnte Sohn Gustav schuld sein. Und Dorothea Wierer hat der Lockdown neue Motivation gegeben.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Kontiolahti/Stuttgart - Im Motorsport, so witzelten sie vor Jahrzehnten im Fahrerlager, kostet die Geburt eines Kindes etwa eine Zehntelsekunde pro Runde, was im Vollgasgewerbe eine beträchtliche Belastung darstellt. Johannes Thingnes Bö ist im Frühjahr Vater geworden, Sohn Gustav erblickte das Licht der Welt. Nun ist der Norweger kein Rennfahrer, sondern Biathlet – er könnte eine Zehntel pro Runde in der Loipe lässig verkraften. Der zehnmalige Weltmeister gilt als einer der besten Läufer der Skijäger-Szene (wahrscheinlich ist er der beste), auf eine Zehntel hin oder her kommt es also kaum an, wenn die Biathleten in Kontiolahti in die Weltcup-Saison starten. An diesem Samstag steht für die Herren das Einzel (11 Uhr/ZDF) und der Sprint am Sonntag (10.30 Uhr/ZDF) auf dem Programm.

 

Fünf Schießfehler von Bö beim Härtetest

Oder kommt es vielleicht doch auf Sekundenbruchteile an? Der Gesamtweltcup-Sieger 2020 hat in der Vorbereitung ziemlich geschwächelt. Als „völlige Katastrophe“ beschrieb der 27-Jährige sein Schießen bei einem Trainingswettkampf. Beim Härtetest der Norweger in Beitostölen blieb Bö weit hinter seinen Erwartungen und denen der Kollegen und des Trainers. „Ich habe es vermasselt, aber es hilft nichts“, sagte der Mann aus Stryn, nachdem er im Liegendschießen vier Fahrkarten geschossen hatte, „wie ich das geschafft habe, muss ich bis zum nächsten Rennen verstehen.“ Zu den vier Patzern im Liegendanschlag gesellte sich ein weiterer im Stehendschießen. Coach Siegfried Mazet fand kaum Worte: „Das war schlecht. Dabei hatte es nicht mal Wind gegeben.“

Eigentlich schien alles gerichtet für eine weitere dominante Saison für Bö. Dauerrivale Martin Fourcade ist zurückgetreten, dessen französischen Erben Quentin Fillon Maillet, Emilien Jacquelin und Simon Desthieux sowie den Deutschen Arnd Peiffer und Benedikt Doll traut man zwar zu, den Norweger gelegentlich ärgern zu können, aber sie scheinen nicht konstant genug, um Überflieger Bö in der Gesamtwertung zu gefährden. Womöglich war Bö zu sehr Vater – er ließ das Höhentraining am Lavazejoch aus und schob wegen Gustav einige Nachtschichten. „Es hat Trainings gegeben, bei denen ich müde und nicht konzentriert war“, gestand der Norweger, der „so weit wie möglich normale Vaterpflichten erledigte“. Womöglich kostet Gustav seinen Vater Johannes Bö mehr als eine Zehntel pro Runde.

Doro Wierer und ihr Kinderwunsch

Dorothea Wierer ist bereits 30, und die Südtirolerin beschäftigt sich deshalb auch mit Gedanken an Nachwuchs. „Ein Kind ist das Größte im Leben einer Frau, der Sport ist dann zweitrangig“, sagte die Doppelweltmeisterin von Antholz im Februar, „aber ich werde versuchen, bis zu den Winterspielen 2022 durchzuhalten. Wenn es diesen Winter gut läuft, würde es das um einiges leichter machen.“ Immerhin: Es gibt keine Berechnungen, wonach bereits der Gedanke an ein Kind einen Sportler bremsen würde.

Dass die Gesamtweltcup-Siegerin in der neuen Saison noch mit dabei ist, liegt möglicherweise auch an der Corona-Krise. Wierer, nicht nur in Italien das weibliche Gesicht des Biathlons und unsagbar rege in Social Media wie Instagram, hat während des Lockdowns über die Zukunft nachgedacht. „In meinem Kopf ist viel herumgeschwirrt. Will ich weiter so viele Opfer für den Sport bringen? Wie viel kann ich noch geben?“, erzählte sie vor einigen Wochen, „ich bin komplett zur Ruhe gekommen, das hat in den letzten Jahren gefehlt. Dann habe ich gemerkt: Ich habe noch sehr viel Willenskraft und Leidenschaft für Biathlon in mir.“

Doch die Südtirolerin besitzt nicht die exponierte Stellung, die ein Johannes Bö bei den Herren innehat, bei den Damen liegt die Spitze enger beisammen. Tiril Eckhoff und Marte Olsbu Roiseland (beide Norwegen), Denise Herrmann (Oberwiesenthal) und Hanna Öberg (Schweden) jagen die Titelverteidigerin, wenn es am Samstag im Einzel (14.20 Uhr/ZDF) und am Sonntag im Sprint (13.40 Uhr/ZDF) um die Podestplätze geht. „Ich will den Gesamtweltcup gewinnen“, sagte Roiseland. Für Dorothea Wierer wird es nicht einfacher, mit 30 wird es schwieriger, das hohe Niveau zu halten. „Wenn ich Spaß bei der Arbeit verspüre“, sagt sie, „wird alles viel einfacher.“ Und der Kinderwunsch wird noch für zwei Jahre ruhiggestellt.