Der Bildhauer Fritz von Graevenitz Ein Gottbegnadeter

Fritz von Graevenitz war in der nationalsozialistischen Zeit Direktor der Stuttgarter Kunstakademie und stand auf Hitlers „Gottbegnadetenliste“. Hat er sich schuldig gemacht?
Stuttgart - Der Löwe im Mittleren Schlossgarten, der wegen der Stuttgart-21-Baustelle seinen angestammten Platz verlassen muss, hat von jeher eine magische Anziehungskraft auf Kinder. Während die Kleinen den steinernen Rücken erklimmen, fällt der Blick der Eltern auf das Hölderlin-Zitat am Sockel: „Oh du der Geisterkräfte gewaltigste, du löwenstolze Liebe des Vaterlands.“ Der Geist einer anderen Zeit weht heran, so gar nicht passend zum fröhlichen Spiel der Jüngsten.
Fritz von Graevenitz schuf das Ehrenmal 1923 – in eigenem Auftrag. Es war sein erstes großes Werk, gewidmet dem Grenadierregiment Königin Olga Nr. 119, in dem der Bildhauer im Ersten Weltkrieg diente, bis er durch einen Kopfschuss sein rechtes Auge verlor. Graevenitz beendete die militärische Laufbahn und wurde Künstler.
Julia Müller hat über die 36 Ehrenmale des Bildhauers für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs ihre Magisterarbeit geschrieben. Die Tochter des Bildhauers Reinhold Georg Müller interessiert sich zwar für Skulpturen, Graevenitz war aber nicht unbedingt ihr Wunschthema. Doch ihr Professor in Tübingen wies sie nachdrücklich darauf hin, dass hier eine Forschungslücke bestand.
„Graevenitz, war das nicht der Nazibildhauer?“ Solchen Urteilen begegnete Müller während ihrer Recherchen öfters. Fakt ist: Graevenitz war im Dritten Reich, nämlich von 1938 bis 1946, Direktor der Stuttgarter Kunstakademie. Belegt ist auch, dass eines seiner Ehrenmale 1939 in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ in München gezeigt wurde, der nationalsozialistischen Vorzeigeschau. Dieses Werk, die Skulptur eines Jünglings, wirkt allerdings weitaus weniger brachial als vergleichbare Figuren der nationalsozialistischen Favoriten Arno Breker und Josef Thorak.
Ehrenbürger von Gerlingen
Ohnehin schuf Graevenitz überwiegend völlig Unverdächtiges, etwa eine Porträtbüste von Robert Bosch. Noch heute steht in den meisten Niederlassungen des Unternehmens ein Abguss. Der Künstler erhielt nach 1945 weiterhin öffentliche Aufträge, wurde zum Ehrenbürger von Gerlingen ernannt und bleibt seinem Neffen, dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, als „Künstler voll Herz, Fantasie und Gestaltungskraft“ im Gedächtnis.
Als Julia Müller ihr Studium abgeschlossen hatte, boten ihr die Erben des Bildhauers die Leitung des Graevenitz-Museums an, das sie 1971 im ehemaligen Wohnhaus der Familie auf der Solitude eingerichtet hatten. Das Atelier war 1969 abgerissen worden, als der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger dort sein Domizil errichtete. Sonntagsausflügler kennen das bronzene Reh, das vor dem Museum steht. Um die Jahrtausendwende war den Erben klar geworden, dass sie das Museum nicht länger selber betreuen konnten.
Bei ihren sonntäglichen Führungen durch das Museum muss Julia Müller immer wieder dieselbe Anekdote erzählen: Als Richard von Weizsäcker 1990 zum Stuttgarter Ehrenbürger ernannt wurde, bot er der Stadt an, auf das übliche Standbild zu verzichten, da sein Onkel ihn doch schon als Kind porträtiert habe: Als kleiner Junge hatte der spätere Bundespräsident dem Bildhauer für das Cannstatter Erbsenbrünnele Modell gesessen. Zwar zerstörte ein französischer Soldat nach dem Krieg die Brunnenfigur, doch Fritz von Graevenitz stellte sie selbst wieder her.
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