Die Befürworter des EU-Austritts vom Sommer 2016 sind ernüchtert von den nun drohenden Konsequenzen. Schon jetzt verändert der Brexit in dramatischer Weise die britische Gesellschaft, ihren Zusammenhalt und ihre politischen Institutionen.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - In der Woche vor dem Brexit-Referendum, im Juni 2016, erschien die britische Zeitschrift „Spectator“ mit einem Schmetterling auf der Titelseite. Das Insekt enfaltete seine Flügel in den Farben des Union Jacks.   Es erhob sich aus einem würfelähnlichen Kokon, dessen auseinanderfallende Seitenwände das Blau der EU und deren Sterne zierten. „Out“, schwärmte das Blatt, „and into the world“.   Die lästige Hülle der EU sollte der Schmetterling abstreifen, um sich in der weiten Welt neuer Ungebundenheit zu erfreuen. Diese Vorstellung sprach viele Briten an, genau wie die geniale Losung „Take back control“, wieder selbst über alles bestimmen zu können. Die Brexiteers siegten knapp mit 52 Prozent.  

 

Zweieinhalb Jahre später zuckt das hübsche Sinnbild nur noch matt mit den Flügeln. Statt in der erträumten Freiheit landete der Falter in harschen Realitäten, im taghellen Licht der Ernüchterung.  Was der Brexit-Promoter Boris Johnson seinerzeit in schillernden Farben ausmalte, droht für die Briten zum Albtraum zu werden – falls sich die politischen Repräsentanten weiter nicht einigen können und die Nation im März „über die Klippen springt“.  

Diplomaten raufen sich die Haare

Die Regierung plant bereits, Nahrungsmittel zu horten, Medikamente in Chartermaschinen einzufliegen, spezielle Polizeieinheiten zur Aufrechterhaltung der Ordnung abzustellen und Tankstellen durch die Armee zu schützen.  Alle angesehenen Ökonomen und Finanzexperten des Landes sagen, dass jede Form von Brexit die Briten kurz- wie langfristig ein Vermögen kosten würde.   Banken und Großkonzerne haben aufgehört zu lamentieren und längst neue, profitable Ufer ausgeguckt.   Auch Abgeordnete, die bisher betreten schwiegen, zeigen sich jetzt alarmiert: Sie wissen, dass 2016 niemand dafür gestimmt hat, ärmer zu werden – geschweige denn für einen nationalen Notstand.

Diplomaten raufen sich die Haare, weil ihr Land schon jetzt international an Ansehen und Einfluss eingebüßt hat, statt, wie versprochen, wieder „das große“ Britannien von einst zu werden. Eine Rückkehr zu den stolzen Freibeutertagen der elisabethanischen Ära verhießen Politiker wie Johnson einer Wählerschaft, die der „Brüsseler Bürokraten“, europäischer Integration und zugewanderter polnischer Handwerker überdrüssig war.   Nostalgie verfing vor allem bei älteren und konservativen Wählern. Den Brexiteers half, dass sich seit dem EU-Beitritt im Jahr 1973 kaum je eine britische Regierung mit den Vorzügen der Mitgliedschaft auseinandergesetzt hat.   Der Begriff Europa war fast immer negativ besetzt. Er stand für politische Bevormundung, fremdländische Arroganz, unbegreifliche Sprachen, lästige Direktiven. „Europa“ war schuld an allem, was schieflief im eigenen Land.  

Brexit-Hardliner träumen von einem Billiglohnland

Eine hochpolitisierte Rechtspresse, wie sie kein anderes westeuropäisches Land kennt, befeuerte diese Vorstellung. Boris Johnson selbst diente dieser Presse einst als Brüsseler Berichterstatter – und als unermüdlicher Fake-News-Produzent.   Als dann vor dem Referendum Flüchtlings- und Migrantenströme nach Europa drängten, fiel es den Brexiteers leicht, interne Frustration auf ein externes Ziel zu lenken. Und an Frustration fehlte es nicht.   Vielerorts brodelte Zorn gegen die eigene politische Elite, die dem Land harsche Austerität und ein immer krasseres soziales Gefälle bescherte. Ausgerechnet der Eton-Zögling David Cameron, taub für die Klagen der Bedürftigen, trat als Anwalt der Pro-EU-Seite an.  Es ist viel darüber diskutiert worden, wieso vor allem die benachteiligten Regionen für den Brexit stimmten – als Gründe gelten die Globalisierung, der kontinuierliche Abbau der Industrie, die Kreditkrise, die Rezession und Camerons martialische Kürzung öffentlicher Mittel.  

Das Verlangen nach einem Austritt lässt in den ärmsten Regionen auch jetzt nur zögerlich nach – obwohl sich längst abzeichnet, dass diese Regionen mehr als andere leiden werden.   Erst in jüngster Zeit kommen Brexit-Wählern, vor allem in Labour-Wahlkreisen, Bedenken – kein Brexiteer hatte die nun drohenden Konsequenzen erwähnt. Zudem scheinen prominente Brexit-Hardliner den Ausstieg aus der EU zu nutzen für ihren Feldzug gegen Steuern und Sozialstaat, gegen Umweltbestimmungen und Arbeitsschutz – denn die härteste Fraktion rekrutiert sich aus Thatcheristen und Verfechtern freier Marktwirtschaft, für die der Brexit nur ein Vehikel war.   Für sie sollte Brexitannien das neue Singapur vor den Küsten Europas werden: ein Billiglohnland, ein Magnet fürs große Geld aus aller Welt.  

Die Spaltung zeigt sich überall

Auf desillusionierte Brexit-Wähler und die pro-europäische Jugend baut, wer ein zweites Referendum fordert, das die tiefe Spaltung der britischen Gesellschaft allerdings nicht heilen würde. Florierende, international geprägte Städte stehen der ländlichen und vernachlässigten Provinz gegenüber, den alten Industriezonen, den sterbenden Seebädern. Dort hält sich die Abneigung gegen die EU hartnäckiger als anderswo.   Die Spaltung zeigt sich überall: Alt und Jung, Hauseigentümer und Besitzlose trennt eine Kluft.

Die keltischen Gebiete Schottland und Nordirland, die sich in der EU gut aufgehoben fühlen, haben gegen den Brexit gestimmt, schottische und irische Nationalisten bieten englischem Nationalismus die Stirn und umgekehrt.  Der Brexit hat alte Gräben weiter vertieft, auch dank Theresa May: Schottland hat sie komplett ignoriert, und in Nordirland hörte sie nur auf die Brexit-fixierten Unionisten. Die beim Referendum unterlegenen 48 Prozent der Gesamtbevölkerung wurden derweil des „Verrats an der Demokratie“ beschuldigt, wann immer sie Kritik übten an Mays kompromisslosem Kurs.   Statt nach einer versöhnlichen Lösung zu suchen, für die es durchaus eine parteiübergreifende Mehrheit im Unterhaus gegeben hätte, forcierte May die Politik scharfer Konfrontation, die ihr die Tory-Rechten vorgegeben haben.

Aus dem politischen Dilemma wurde eine Verfassungskrise

Sie hat aus dem politischen Dilemma gar eine Verfassungskrise gemacht: Die Premierministerin setzte alles daran, dem Parlament echte Mitsprache vorzuenthalten. Als die Verfassungsrichter den Volksvertretern beisprangen, wurden sie ihrerseits in Teilen der Presse als „Volksverräter“ denunziert, und die Regierung ließ sich viel Zeit mit ihrer Verteidigung der Justiz.   Geleitet von ihrer ganz privaten Interpretation des „Volkswillens“, mochte sich Theresa May von Brexit-skeptischen Parlamentariern nicht dreinreden lassen.  Schließlich bezichtigte eine Unterhaus-Mehrheit die Regierung der „Missachtung des Parlaments“ – beispiellos in der britischen Nachkriegsgeschichte.  Zwischen der Exekutive, der Volksvertretung und dem Volksentscheid, der in Großbritannien eigentlich nur beratenden Charakter hat, ist eine Grauzone der Legitimität entstanden, weil es keinen Konsens mehr gibt.

Besorgte Beobachter warnen, Großbritannien werde lange mit diesen Problemen kämpfen müssen – egal wie die Schlacht um den Brexit ausgeht.   Schon jetzt betrachteten sich viele seiner Landsleute immer weniger als Labour- oder Tory-Wähler und immer mehr als Befürworter oder Gegner des Brexits, schrieb  Robert Shrimsley, Kommentator der „Financial Times“.  Neue Parteien und populistische Bewegungen, vor allem auf der Rechten, formieren sich, man hört vom „Volkszorn“, der sich im Falle eines abgesagten Brexits entladen würde.   Zugleich gibt es die erste proeuropäische Grassroots-Bewegung der britischen Geschichte: 700 000 Demonstranten kamen im Oktober zur Pro-EU-Kundgebung.   Eines könne man schon jetzt mit Sicherheit sagen, meint Shrimsley: Der Brexit-Effekt werde „länger anhalten, als es je jemand erwartet hätte“.

Im gegenwärtigen Chaos und in der überstürzten Abfolge der politischen Ereignisse ist kaum abzuschätzen, in welchem Maß der Brexit die britische Gesellschaft, die Institutionen des Landes und den Zusammenhalt seiner Teile schon jetzt verändert hat – nichts ist von den jüngsten dramatischen Umbrüchen unberührt geblieben. Und niemand vermag zu sagen, wie das Drama endet, jenseits des Traums.