Die Parlamentarier bieten Premier Johnson die Stirn und haben ihm eine schwere Niederlage zugefügt. Doch wer den Machtkampf am Ende gewinnt, ist offen.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Wie es in London jetzt weitergeht, kann im Augenblick niemand seriös vorhersagen. Um zentrale Machtfragen kreist jetzt alles.

 

Verhinder britische Parlamentarier ein No-Deal-Fiasko?

Sie versuchen es jedenfalls – und glauben sich auf dem besten Wege. Ein entsprechendes Gesetz ist am Mittwoch vom Unterhaus im Eilverfahren gebilligt worden. Es soll die Regierung zwingen, die EU um eine Verschiebung des Brexit-Datums vom 31. Oktober auf den 31. Januar 2020 zu bitten – wenn London und Brüssel sich beim EU-Gipfel Mitte Oktober nicht doch noch auf einen geregelten Abgang einigen. Die Vorlage soll an diesem Freitag vom Oberhaus abgezeichnet werden. Am Montag wird sie dann Gesetz – gerade noch rechtzeitig vor der von Johnson geplanten Zwangspause des Parlaments, die theoretisch am Dienstag beginnen kann.

Ist der Chaos-Brexit damit sicher abgewendet?

Nicht unbedingt. Selbst wenn das Gesetz rechtzeitig steht, fragt sich, ob Premier Johnson es als Weisung akzeptiert oder ob er Wege findet, es zu umgehen. Er hat mehrfach erklärt, dass er sich an den Parlamentswillen nicht gebunden fühle – und dass er sein Land am 31. Oktober aus der EU führen werde, „komme, was wolle“. Vor allem hofft Johnson darauf, am Montag im Unterhaus grünes Licht für Neuwahlen zu erhalten. Wahltag soll der 15. Oktober sein. Sollte es dazu kommen und sollte Johnson die Wahl gewinnen, könnte er das jetzt zustande kommende Gesetz per neuer Mehrheit einfach wieder abschaffen. Wenige Tage später stünde den Briten damit ein No-Deal-Brexit bevor.

Wieso ist Johnson so scharf auf rasche Neuwahlen?

Im jetzigen Unterhaus hat er keine Basis mehr. Ein Wahlsieg würde ihm volle Handlungsfreiheit verschaffen. Wenn das Parlament Neuwahlen beschließt, könnte er den Wahltag noch einmal neu festlegen – zum Beispiel auf einen Tag im November. Das hieße, dass Großbritannien noch während des Wahlkampfs aus der EU ausscheidet. Niemand kann Johnson an einer solchen Entscheidung hindern. Allerdings müsste der Premier fürchten, dass ein No-Deal-Brexit unmittelbar zu Autostaus an den Grenzen oder zu einem Pfundverfall führen und seine Wähler verunsichern würde.

Wovon hängt der Wahltermin ab?

Die oppositionelle Labour Party gibt den Ausschlag. Sie hat zwar seit langem Neuwahlen gefordert, fürchtet nun aber, dass ein rascher Termin zu Johnsons Gunsten ausgehen und ihm freie Hand beim Brexit verschaffen könnte. Labour will daher auf keinen Fall vor November wählen – anders als Parteichef Jeremy Corbyn. Der ist selbst Brexiteer und ganz versessen auf Wahlen zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Corbyn ist trotz katastrophaler Meinungsumfragen überzeugt, dass er die Wahl gewinnen würde und dann selbst einen Brexit mit der EU aushandeln könnte.

Welche Partei hat aktuell die größeren Probleme?

Die Torys stehen vor einer echten Zerreißprobe. Der Parteiausschluss von 21 konservativen Abgeordneten in der Nacht auf Mittwoch hat zu Tumulten in der Partei geführt. Johnson hatte potenziellen Rebellen gegen seinen No-Deal-Kurs stets angedroht, sie aus der Partei zu werfen. Nicht gerechnet hat er damit, dass sich so viele über diese Warnung hinwegsetzen würden. Mittlerweile sprechen kritische Torys von „unakzeptablen Säuberungen“.

Ist ein neuer Brexit-Deal mit der EU überhaupt möglich?

Das behauptet Boris Johnson beharrlich. Er geht davon aus, dass „unsere lieben Freunde in Europa“ in letzter Minute – das wäre beim EU-Gipfel am 17./18. Oktober – noch „Vernunft annehmen“. Von Verhandlungen in Brüssel kann allerdings nicht die Rede sein.