Bundespräsident Gauck ist zu Gast in Baden-Württemberg. Bei seiner Rede im Landtag warb er für eine Überwindung der Kluft zwischen Bürgern und Politik.

Stuttgart - Bundespräsident Joachim Gauck hat die wachsende politische Protestszene in Deutschland aufgefordert, sich konstruktiv in Parteien und kommunale Parlamente einzubringen. „Unsere repräsentative Demokratie ist ein Schatz“, sagte Gauck am Donnerstag bei einer Rede im Stuttgarter Landtag. Die demokratischen Institutionen dürften „kein fernes Gegenüber und erst recht kein Gegner“ sein.

 

Gauck war mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt zu seinem Antrittsbesuch nach Baden-Württemberg gekommen. Es ist das erste Bundesland, das der 72-Jährige als Staatsoberhaupt bereist. Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) empfing den Präsidenten am Morgen in der Staatskanzlei. Der erste grüne Ministerpräsident der Republik stellte sein Land vor und sagte: „Diese engagierte Bürgerschaft ist das wichtigste Pfund, das wir haben.“

Der Bundespräsident sieht politisches Engagement auf der Straße und im Internet mit gemischten Gefühlen. „Die Begeisterungsfähigkeit, Freude am Engagement und Spontaneität von Ad-hoc-Gruppen, freien Initiativgruppen oder Onlineaktionen sind ein wunderbarer Ausdruck einer lebendigen Demokratie.“ Er sehe aber mit Sorge, dass viele dieser engagierten Bürger „mit den Mechanismen und Formen der repräsentativen Demokratie fremdeln“, sagte Gauck ohne die Bewegung gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 namentlich zu nennen.

„Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung“

Gauck sagte, die Menschen müssten immer wieder daran erinnert werden, dass Deutschland „ein Land des Demokratiewunders“ sei. Baden-Württemberg sei mit seiner innovativen Exzellenz in der Wirtschaft und dem breiten bürgerschaftlichen Engagement ein Vorbild für andere Länder. Er wünsche sich eine „Gemeinschaft der Zuversicht“ in ganz Deutschland: „Es ist keine Tugend, verzagt zu sein.“

Mehr Menschen müssten sich fragen: „Könnte ich vielleicht selbst Verantwortung übernehmen?“ Er räumte ein, dass es zuweilen schwierig sei, sich etwa im Gemeinderat zu engagieren. „Nicht jeder versteht spontan den Haushaltsplan seiner Gemeinde. Nicht jede wirkt in ihrer Freizeit an einem Flächennutzungsplan mit.“ Es sei aber eine große Bereicherung für jeden, selbst mitzugestalten. „Partizipation ist in der Bundesrepublik nicht nur ein abstraktes Sehnsuchtswort. Sie ist politische Wirklichkeit. Sie ist täglich möglich.“

Beim Empfang in der Villa Reitzenstein hatte Kretschmann dem Staatsoberhaupt ein Buch geschenkt. Der Grüne überreichte Gauck ein antiquarisches Exemplar des Werks „Erste Liebe“ der Schweizer Philosophin Jeanne Hersch, über das sie bei ihrer letzten Begegnung diskutiert hatten. Es handelt von einer Romanze zwischen einem jungen Mädchen und einem reifen Mann.

Gauck auch in Tübingen zu Gast

„Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung“, habe Hersch mal gesagt, erklärte der Ministerpräsident. Dieser Leitsatz verbinde die beiden Politiker. Neben anderen Büchern schenkte Kretschmann dem Bundespräsidenten und Schadt Porzellan aus der Manufaktur Ludwigsburg.

Unter den Gästen im Landtag waren auch Kretschmanns Amtsvorgänger Erwin Teufel und Lothar Späth (beide CDU). Deren Nachfolger und Parteifreunde Günther Oettinger und Stefan Mappus (ebenfalls CDU) ließen sich hingegen nicht sehen.

Gauck wollte anschließend in den Kreis Tübingen weiterfahren, wo unter anderem der Besuch in einer Schule und einem Solarthermie-Unternehmen auf dem Programm standen. Am Abend sollte der Bundespräsident mit 130 Bürgern zusammentreffen. Wer dafür keine Karte hat, wird den Staatschef aber nicht zu Gesicht bekommen: Ein öffentlicher Auftritt war nicht geplant.