Die Reichen wohnten hier, die Polizei schaffte hier, nun ziehen Künstler ein in das Gebäude Willy-Brandt-Straße 12. Sie wollen dort „einen Ort für Gegenwartskultur“ schaffen. Die Bahn stellte das Haus umsonst zur Verfügung.

Stuttgart - In dieser Stadt muss auch der Künstler erst mal Kehrwoche machen. Von wegen schönes Leben der Boheme. Man stellt sich das ja gerne so vor: Der Künstler steht spät auf, sinniert unter dem Einfluss geistiger Getränke, schläft noch ein bisschen, werkelt die Nacht durch und hat dann etwas geschaffen – oder halt auch nicht. Die Wahrheit sieht anders aus. Erik Sturm, Peter Granser, Leyla Gersbach, Kerstin Tscherbakova, Lutz Näfelt, Kerstin Göhlich, Phil Anderson und Beatrice Theil waren begeistert von dem Haus, begeistert von der Idee, einen Ort zu schaffen, an dem sich Künstler aller Couleur begegnen und arbeiten können. Aber zunächst mussten sie malochen. Staub wischen, Fenster putzen, saugen, rauswischen, reparieren.

 

Vor 14 Jahren zog die Polizei aus

Der Dreck von 14 Jahren hatte sich angesammelt. 2004 waren die Polizisten aus dem Revier Willy-Brandt-Straße ausgezogen. Seitdem stand das Haus leer. Das Land hat es an die Bahn vermietet, im Erdgeschoss sind im Zuge von S 21 die Bauarbeiter von Züblin eingezogen, direkt nebenan ist die Baugrube des neuen Bahnhofs, beginnt der Tunnel hinauf auf die Filder. Zwei Stockwerke mit 13 Räumen, ungefähr 450 Quadratmeter, blieben ungenutzt. Die neoklassizistische Stadtvilla wurde 1860 erbaut, damals an einer Prachtstraße. Unter Denkmalschutz steht sie, als eine der letzten ihrer Art. Was nicht den Bomben zum Opfer fiel, ließ man abräumen, um eine Stadtautobahn zu bauen. 2004 schließlich beseitigte das Land die Häuser gegenüber dem Hotel Le Méridien und baute dort das Innenministerium.

In jenem Jahr zogen auch die Polizisten an die Wolframstraße. Sie hinterließen ihre Namensschilder, ein abgelaufenes Linoleum und Lautsprecher und Signalanlagen im ganzen Haus. Wie es drinnen aussah, wusste Erik Sturm nicht. Aber als einer der Gründer des Projektraums Lotte wenige Häuser weiter sah er stets das Gebäude, wusste, dass es leer stand, und dachte sich: Da muss man was machen. Er hakte nach und rannte bei der Bahn offene Türen ein. Die legte beim Land ein gutes Wort ein und überließ das Gebäude mietfrei den Künstlern. Vorerst befristet bis Ende 2020. Aber S 21 zieht sich noch etwas, seine Fertigstellung vorherzusagen ist ja eine Kunst für sich.

Das Haus soll wachsen

Ans Ende denken sie natürlich noch nicht, derzeit ringen sie noch mit dem Anfang. Am Freitag bespielen sie zwar erstmals das Haus, zusammen mit dem Éclat-Festival haben sie Stock 11 eingeladen, eine Gruppe von elf Komponisten, die zeigen, dass Musik auch ohne Ton funktioniert . Doch vieles ist noch im Ungewissen. Der Name ist erst mal „Kulturhaus Willy-Brandt-Straße 12“, einen griffigeren wollen sie finden. Spaßhaft haben sie mal einen ins Rennen geworfen: „Der coole Teil der Kulturmeile“.

Wie sie das Haus ausgestalten, wollen sie in den nächsten Monaten entwickeln. Ein Treffpunkt für Kunstschaffende aller Couleur solle es werden, denn davon gibt es in einer teuren Stadt wie Stuttgart viel zu wenige. Ein Ort zum Arbeiten, nicht zum Partymachen, der Vernetzung dienen, verschiedene Sparten zusammenbringen. Nüchtern gesagt: „Es geht um Kulturproduktion.“

Erst Fenster putzen, dann Kunst schaffen

Das hört sich spröde an, ist aber ganz im Sinne der Galeristin Leah Stuhltrager, die von New York nach Berlin übersiedelte und nach der Ankunft fassungslos feststellte: „Deutschland bringt viele Künstler hervor, die nicht wirklich was machen.“ Wenn man in New York ein Künstler werden wolle, bedeute das, fünf Jobs zu haben und sich dann noch zu Hause auf seinen Hintern zu setzen und zu arbeiten. In Stuttgart ist das ähnlich. Da muss man nicht nur Teller waschen, sondern sogar noch Fenster putzen.

Am Freitag ist die erste Ausstellung

Das neue Künstlerhaus an der Willy-Brandt-Straße 12 präsentiert sich erstmals am Freitag, 26. Januar, von 19 Uhr an. Es wird bis zum 10. Februar eine Außenstelle des Eclat-Festivals. Die Komponistengruppe Stock 11 zeigt verschiedene Videos und Klanginstallationen. Zum Auftakt ist der Eintritt frei. Wer dann mittwochs bis freitags von 16 bis 22 Uhr, samstags von 11 bis 22 Uhr und sonntags von 11 bis 18 Uhr kommt, zahlt 5 Euro Eintritt.