Von 2011 bis 2016 war der französische Dirigent Chef des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Heute leitet François-Xavier Roth zwei Orchester: ein modernes und eines, das in historisch informierter Stilistik auf alten Instrumenten musiziert. Mit beiden hat er neue CDs aufgenommen. Geht das?

Köln - Im Südwesten der Republik wird man den Kämpfer nie vergessen: den kleinen, mutigen, wütenden Mann der Kunst, den Franzosen, der sein deutsches Orchester bis zu dessen Auflösung 2016 mit Zähnen und Klauen verteidigte. Der in Freiburg an vorderster Front seiner Instrumentalisten gegen die vom Südwestrundfunk verordnete Fusion mit dem Radio-Sinfonieorchestervorging und dafür sogar eine Abmahnung von oberster Stelle in Kauf nahm. Beim Abschiedskonzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg im Freiburger Konzerthaus hielten Menschen im Publikum Schilder in die Höhe, die nicht nur „ihren“ Musikern, sondern ganz besonders auch dessen engagiertem, dynamischem Dirigenten galten. „Singulier“, stand in dessen Muttersprache darauf, „extraordinaire“, „excellent“: also einzigartig, besonders, exzellent.

 

François-Xavier Roth, geboren 1971 in Paris als Sohn des Organisten (und genialen Improvisators) Daniel Roth, ist fünf Jahre lang mit der Tradition und Befindlichkeit des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg zusammengewachsen.„Wir spielen Neue Musik aus allen Zeiten“: Dieser Satz soll schon in Freiburger Zeiten das erste Leitmotiv des Musikers gewesen sein, der immer alles für den Moment des Musizierens gegeben und jede Musik als neu verstanden hat. Das passte zu dem Orchester, das im Bereich der zeitgenössischen Musik Geschichte schrieb und dessen Chefdirigenten schon zu Südwestfunk-Zeiten eher einem Ideal eines klar konturierten kammermusikalischen Miteinanders verpflichtet waren denn der Idee eines großflächigen, nachromantischen Überwältigenwollens. Der Ton des Freiburger Klangkörpers war schon immer besonders, weil man ihm die Stahlbäder der Neuen Musik ebenso anhörte wie die Kraft, die den Musikern bei der Bewältigung mancher für unaufführbar gehaltenen komponierten Zumutungen zugewachsen war. Roth ergänzte Transparenz und Energie durch Farbsinn – und versah, was (auch im Orchester!) gute Wirkung machte, manches Schwere mit einer Prise Leichtigkeit und Nonchalance.

2003 hat Roth das Originalklang-Ensemble Les Siècles gegründet, 2015 wurde er Chef in Köln

Seit 2015 ist François-Xavier Roth Chefdirigent das Gürzenich-Orchesters, das auch die Kölner Oper bespielt, und auch hier hält er die Tradition hoch, oft durch die Kombination von Uraufführungen mit sinfonischem Kernrepertoire und Werken der klassischen Moderne. Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ hat er letztes Jahr mit großem Erfolg an der Oper herausgebracht – die Uraufführung fand 1965 am selben Ort statt. Auch seine Aufnahme von Gustav Mahlers dritter Sinfonie, die jetzt herausgekommen ist, verweist auf die Geschichte: 1902 hat Gürzenich-Orchester gemeinsam mit der Städtischen Kapelle in Krefeld das Stück, in dem Mahler seinen ganz persönlichen, weltumfassenden Schöpfungsmythos ausbreitet, zu seiner umjubelten Uraufführung gebracht. Die spätere Wiener Aufführung war weit weniger erfolgreich: „Für sowas“, schrieb 1904 ein Wiener Kritiker, „verdient der Mann ein paar Jahre Gefängnis.“

Man hört die CD, und man spürt, ohne dass es sich greifen ließe, dass noch etwas da ist: ein Wissen der Musiker um ihre Wurzeln. Was man hören kann, ist: absolute Transparenz. Die Übergänge sitzen präzise und wirken doch nie steril und abgezirkelt, das Naive und Volksliedhafte klingt selbst im heiklen Kinderchor-Satz nie banal, der monumentale erste Satz spannt sich packend auf zwischen Trauer- und (in den Bläsern exakt registriertem) Militärmarsch. Das Beste kommt allerdings erst zum Schluss: Im letzten, sechsten Satz, der das System zuerst zusammenbrechen und dann in utopisch strahlendem D-Dur-Glanz neu erstehen lässt; hier, wo Wagners „Parsifal“ nach- und Strauss’ „Zarathustra“ (Pauken!) anklingt, entsteht nicht nur eine schlüssige Synthese, sondern wahrhaft Auratisches.

Mit historischem Instrumentarium legt Roth die klassischen Wurzeln von Hector Berlioz frei

François-Xavier Roth kann aber auch anders. 2003 hat er mit französischen Musikern ein Originalklang-Ensemble gegründet, mit dem er schon exzellente Ravel- und Debussy-CDs herausgebracht hat. Im Mai wird er mit Les Siècles Mahlers erste Sinfonie herausbringen, will sich überhaupt mit diesem Orchester mehr und mehr der Moderne auf Instrumenten der jeweiligen Zeit nähern, und wer jetzt die Aufnahme der „Harold en Italie“-Sinfonie und der Orchesterlieder „Les nuits d’été“ von Hector Berlioz hört, der merkt, dass dies nicht nur eine gewisse Logik hat, sondern dass es etwas aussagt: über den Dirigenten ebenso wie über die Musikpraxis unserer Tage. Es geht um Durchleuchtung, um das Klarlegen von Linien. Das gelingt mit alten Instrumenten, die rauer klingen, widerständiger, und die weniger mit anderen verschmelzen, leichter als mit modernen. Die klassischen Wurzeln des Komponisten Berlioz hätte Roth mit seinem Gürzenich-Orchester nicht so prägnant herausarbeiten können; in Köln hätte er im Gebet der Pilger im zweiten Satz der Sinfonie kaum so fein instrumental auf die ins Leise verschwindenden filigranen Arpeggien der hinreißenden Viola-Solistin Tabea Zimmermann reagiert. Aber eine philharmonische Masse, glatt gebürsteten Gleichklang, hört man am Gürzenich auch nicht. Die Wege der historisch informierten Musiker und der modernen Musiker gehen aufeinander zu; in den letzten Jahrzehnten haben zumal Letztere von Ersteren mächtig viel gelernt, und es ist absehbar, dass die Schubladen und Spezialisierungen in Bälde vollends verschwinden werden. Man darf – auch das lehrt uns François-Xavier Roth – nur nicht aufhören zu fragen und neugierig zu sein.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3. Gürzenich-Orchester Köln, Sara Mingardo (Mezzosopran), François-Xavier Roth. harmonia mundi, 2 CDs

Hector Berlioz: Harold en Italie, Les nuits d’été. Tabea Zimmermann (Bratsche), Stéphane Degout (Bariton), Les Siècles, François-Xavier Roth. harmonia mundi