Ihr Nabu kümmert sich heute um Luchs und Wolf, der BUND – die zweite große Naturschutzorganisation im Land – um die Wildkatze und umweltpolitische Fragen wie Atomkraft oder Fracking. Gab es diese Arbeitsteilung schon früher?
Der BUND verstand sich von Anfang an als Umweltschutz- und Naturschutzverband. Wir waren die Vogelschützer. Die Haupttätigkeiten waren Nistkästen aufhängen und Winterfütterung der Vögel. Damit beschäftigte sich der Nabu, der größte Naturschutzverband Baden-Württembergs, bis in die 1980er-Jahre fast ausschließlich.
Klingt so, als hätte Ihnen das gestunken.
Jahrelang war unser Landesverband, am 4. September 1965 in Stuttgart gegründet, der Alleinherrscher. Ein schlafender Riese mit rund 30 000 Mitgliedern. Mein Freund Gerhard Thielcke konnte diese politische Lethargie nicht mehr ertragen und vollzog den Schritt vom Ornithologen zum Naturschützer: 1973 gründete er den BUND-Landesverband, zwei Jahre später gehörte er zu den Gründern des BUND-Bundesverbands. Plötzlich hatte der Nabu einen Konkurrenten, der die ganze naturschutzpolitische Szene in Baden-Württemberg umkrempelte. Bei unseren Vorstandssitzungen wurden oft stundenlang Hasstiraden gegen den BUND geschwungen. Und dann schrieb Thielcke auch noch das erfolgreiche Buch „Rettet die Vögel“.
Ihrer Freundschaft schadete das nicht?
Im Gegenteil: Thielcke war mein Vorbild. Wir sind oft zusammen mit dem Zug nach Stuttgart zu unseren Geschäftsstellen gefahren und haben dadurch genügend Zeit gehabt, zu diskutieren und uns abzusprechen. Er suchte die politische Auseinandersetzung und Verbündete in den nichtstaatlichen Organisationen, in den Parteien und in den Ministerien.
Gab es keine ähnlichen Bestrebungen beim Nabu?
Der Nährboden war bei uns sicherlich durch die gesellschaftlichen Umbrüche gelegt: 68er-Generation, Studentenrevolte, Anti-Atomkraft-Bewegung. Und auch unsere Verbandsjugend machte Druck. Mir jedenfalls ging ein Licht auf: Die grundlegenden Entscheidungen zum Schutz unserer Vögel und ihres Lebensraumes fallen nicht in wissenschaftlichen Diskursen an Universitäten, sondern in politischen Debatten. Wir müssen politisch denken und handeln. Dies forcierte ich in den 80er Jahren – zum Entsetzen der anderen Vorstandsmitglieder. In fast jeder Sitzung kam es zum Streit, Anfang 1989 trat der Vorstand zurück, die Delegierten sollten über die inhaltliche Ausrichtung entscheiden.
War das ein ernst gemeintes Angebot?
Wohl kaum. Die meisten dachten, bei einer Neuwahl siegt die konservative Mehrheit, und die paar Rebellen sind wir los.
Der Plan ging nicht auf.
Zwei Drittel der Delegierten stimmten für die neue Linie, einem integrierten Naturschutz auf allen – und damit auch landwirtschaftlichen – Flächen unter dem Motto „Naturschutz auf 100 Prozent der Fläche“. Das war die Abkehr von der Trennung in „Schutz- und Schmutzgebiete“. Konkurrierende Naturschutzverbände sollten nicht mehr bekämpft, sondern mit ihnen kooperiert werden. Erstmals zog mit Astrid Woog auch eine Frau in den Landesvorstand ein, die auch viele Stimmen brachte. In meiner Amtszeit haben wir die Mitgliederzahl von 30 000 auf 70 000 mehr als verdoppelt.
Und wie hat die Politik den Kurswechsel aufgenommen?
Wir nahmen Kontakt zur CDU-Fraktion im Landtag auf. Mit den Grünen zu reden ergab für mich wenig Sinn, mit ihnen waren wir uns in vielen Dingen ohnehin einig, und zudem waren sie nur Opposition dritten Grades. Der Plan, sich künftig nicht mehr nur um Nistkästen und Winterfütterung von Vögeln zu kümmern, sondern um großflächigen Naturschutz, stieß auf offene Ohren – zumindest beim neuen Umweltminister Erwin Vetter und auch beim Landwirtschaftsminister Gerhard Weiser. Sie unterstützten einen von mir 1991 vorgeschlagenen Nationalpark im Nordschwarzwald. Doch der damalige Ministerpräsident Erwin Teufel war dagegen. Er erzwang von Weiser und Vetter, im Kabinett gegen das Gutachten zu stimmen – damit war der Nationalpark vom Tisch.
Wie haben Sie Ihren Beruf und Ihr Ehrenamt verbinden können? Von Radolfzell ins landespolitische Machtzentrum Stuttgart ist es ziemlich weit.
Ich war Lehrer für Biologie und Chemie an einer Radolfzeller Realschule. Um den Zug nach Stuttgart zu erwischen, musste ich oft die letzte halbe Schulstunde schwänzen. Zweimal hat mich der Rektor erwischt, und ich erhielt Abmahnungen. Letztlich habe ich mein Stundendeputat reduziert, und meine Frau stieg als Lehrerin mit einer halben Stelle wieder ein. Ich habe dann eine Satzungsänderung im Nabu eingebracht, dass spätere Landesvorsitzende auch hauptamtlich eingestellt werden konnten.
Welches war die spektakulärste Aktion des Nabu?
1974 haben wir Zigtausende Mehl- und Rauchschwalben in Kartons mit Flugzeugen, mit der Bahn oder mit Autos über die Alpen nach Italien und Südfrankreich gebracht.
Warum das denn?
Im September kam eine Kaltfront, die dauerte 20 Tage. Das war schrecklich: Bei Temperaturen unter zehn Grad und Regen gab es kaum noch Insekten für die Schwalben im Land. Um nicht zu Verhungern, zogen sie an den Bodensee, der niedrigsten und wärmsten Gegend im Spätsommer. Doch auch hier starben viele Vögel, immer wieder fielen welche erschöpft ins Wasser. Unsere Mitglieder kauften deshalb kiloweise Mehlwürmer und versuchten, die Schwalben zu füttern. Schließlich entschlossen wir uns zu der Überführungsaktion in den Süden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das ökologisch keinen Sinn ergab: Wir hatten die Schwalben beringt, fast keine kam zurück. Und doch hat die Natur diesen großen Ausfall ausgeglichen.
Das bedeutet: heute würde der Nabu nicht mehr so handeln.
Richtig. Wir sind damals einem falschen Denken erlegen. Es war eine aufwendige Aktion ohne einen nachhaltigen Effekt. Solche einzelnen Katastrophen wie im September 1974 wird es immer geben. Eine intakte Natur wird damit fertig.
Warum propagiert der Nabu dann immer noch die Winterfütterung der Vögel und lehnt eine solche für Rehe ab?
Die Fütterung bietet die einfachste Möglichkeit, wild lebende Vögel zu beobachten – und ist lehrreich für die Kinder. Wir wollen den direkten Kontakt mit der Natur, sonst können wir gleich den Fernseher einschalten. Rehe brauchen prinzipiell keine Winterfütterung, zumal es keine harten Winter mehr gibt. Aber die Kirrung bietet den Jägern gute Schussgelegenheiten. Wenn die Jäger die Kirrung nicht übertreiben, sollen sie die Rehe von mir aus füttern.
Das sieht der Nabu-Landesverband aber nicht so. Die Winterfütterung war ein großes Streitthema bei der Novellierung des Landesjagdgesetzes.
Von dem Gesetz bin ich sehr enttäuscht, das habe ich unserem Vorsitzenden Andre Baumann auch geschrieben. Er hat hier dem Tierschutz die Front überlassen. Beim Tierschutz ist sehr viel verbessert worden, aber ökologisch fast nichts.
Haben Sie noch einen Posten im Nabu?
Bis 1989 war ich Vorsitzender der Ortsgruppe Radolfzell-Singen-Stockach, die ich in meiner Amtszeit von 90 auf 2000 Mitglieder brachte und damit zur größten Ortsgruppe in Baden-Württemberg machte. Heute bin ich Vorsitzender der Seniorengruppe Bodanrück mit 20 Mitgliedern – eine ganz neue Herausforderung. Nächstes Jahr gebe ich den Vorsitz aber an einen Jüngeren ab.
Was wäre aus Ihrer Sicht die dringlichste Aufgabe im Naturschutz?
Mehr Vielfalt in der Landschaft! Ausgeräumte Agrarfluren gehörten längst auf den Scheiterhaufen. Die Flurneuordnung sollte genutzt werden, um die ausgeräumte Agrarlandschaft zu strukturieren – mit Heckenzügen, Senken, Wasserlöchern, Baumgruppen. Die Menschen lieben eine solche Vielfalt. Keiner wandert doch gerne in einer ausgeräumten Agrarfläche.
Das hat sich mit der Novellierung der Flurneuordnung doch geändert.
Theoretisch ja. Aber schauen Sie sich die Praxis an: In meinem Nachbarort Markelfingen wurden tatsächlich Heckenzüge gepflanzt – aber direkt neben der Autobahn. Die Auflagen wurden damit auf dem Papier erfüllt, das Ganze ist jedoch ökologisch betrachtet irrsinnig.
Sie nehmen kein Blatt vor den Mund.
Ich muss keine Rücksicht mehr nehmen, dazu bin ich mit 79 Jahren zu alt. Aber ich versuche, ein paar Ideen in die jungen Leute reinzubringen.
Was empfehlen Sie dem Nabu?
Wir müssen weg vom Artenschutz, hin zu einer neuen Version von Naturschutz, die unter der großen plakativen Überschrift steht: Vielfalt erhalten. Es geht alles sehr langsam, viel zu langsam. Der Klimawandel läuft schneller.