Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 13 bis 14 Uhr waren wir zu Besuch beim Fair-Teiler in Degerloch. Und aus geplanten 60 Minuten wurden 120.

Degerloch - Um der Fairness willen muss dieser Teil der 24-Stunden-Serie mit einem Blick in eine Kluft beginnen: die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Denn es wäre Ihnen gegenüber, liebe Leser, ungerecht, so zu tun, als hätte alles problemlos geklappt.

 

Die Idee war folgende: Die Autorin dieser Zeilen begibt sich an die Degerlocher Löwenstraße 54 und verbringt dort eine Stunde in einem Schuppen, der seit Januar nicht mehr nur Schuppen ist, sondern Fair-Teiler. Zur Mittagszeit müsste da viel los sein, dachte sie sich. Angeregt durch den regen Austausch von Nachrichten wie „Gemüse und vieles andere im Fair-Teiler“ auf der Internetseite des Fair-Teilers sah ihr geistiges Auge Regale voller Lebensmittel, die jemand nicht mehr, andere aber noch gut gebrauchen können, und die so vor dem Mülleimer gerettet werden. Sie sah Menschen, die diese Lebensmittel bringen, und Menschen, die sie holen. Viele Menschen. Mit Körben oder Taschen, vor allem aber mit Lust zum Reden über den Fair-Teiler und was sie dorthin treibt. Und sie sah sich nach einer Stunde mit vollem Block und Kameraspeicher den Schuppen verlassen und die Zeilen im Nullkommanichts mit einer hübschen Reportage füllen.

Wer nutzt wohl den Fair-Teiler?

Der Wunsch traf die Wirklichkeit an einem Montag – und besagte Autorin auf gähnende Leere. Der kleine Kühlschrank surrte leise vor sich hin und gab ein so trauriges Bild ab, wie es nur leere Kühlschränke können. Insbesondere leere Kühlschränke in Kombination mit leeren Regalen, Körben, Kisten. Aber es war ja erst 13 Uhr. In 60 Minuten kann viel passieren. Und bis es so weit war, also bis zum Eintreffen der gedanklich noch nicht aufgegebenen Horden von Lebensmittelteilern, gab es ja auf den flachen steinernen Stufen und in Gesellschaft allerlei Gartengeräts Gelegenheit zur stillen Kontemplation.

Der innere Monolog war gerade bei der Frage angekommen, ob der Fair-Teiler wohl eher von Menschen genutzt wird, die aus finanziellen Gründen darauf angewiesen sind, oder von solchen, die der Lebensmittelverschwendung etwas entgegensetzen möchten, als ein Vertreter der zweiten Kategorie ins Kühl des Holzhäuschens trat. Mit Rucksack – ohne Inhalt. Er finde die Idee gut, sagte Christof Hammer, und sprach über den „Lebensmittelwahnsinn“ und darüber, wie panisch viele beim Thema Mindesthaltbarkeit seien. Er arbeite in Degerloch schaue deshalb immer mal wieder, ob es etwas zu holen gibt. Nun gab es an jenem Tag aber – laut Hammer untypischerweise – nichts zu holen, und so war er schnell wieder weg. Allerdings nicht ganz so schnell wie die Frau, die einen prüfenden Blick und die Frage, ob etwas da sei, in den Schuppen warf und wieder von dannen zog – mit leerem Korb.

Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Nun füllen leere Körbe aber keinen Block. Blieb nur noch eines: Klingeln putzen. Oder genauer: die Klingel der Löwen-WG putzen. Denn auf der Internetseite des Fair-Teilers ist zwar kein Kontakt angegeben, aber immerhin steht dort geschrieben: „Der Fairteiler befindet sich in der Löwenstr. 54 (Löwen-WG) und ist rund um die Uhr geöffnet.“

Und siehe da: In der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit stecken Überraschungen. Philipp Backhaus, der gemeinsam mit seinem Mitbewohner Simon Ringel die Verantwortung für den hiesigen Fair-Teiler trägt, war nicht nur da, sondern auch bereit für ein Treffen, bei dem er, sollte wieder nichts passieren, die leeren Blockseiten wenigstens mit Aussagen füllen könnte.

13 bis 14 Uhr, die Zweite

Drei Tage später: selber Ort, selbe Zeit – dieselbe Leere. Wieder ist im Fair-Teiler nicht ein einziges, vor dem Müll bewahrtes Krümelchen zu sehen. Ganz zu schweigen von seinen Spendern oder Rettern. Aber Philipp Backhaus ist da. Dass es mal Tage gibt, an denen es im Fair-Teiler eben nichts gibt, sei nicht ungewöhnlich: „Das kommt sehr stoßweise“, sagt er über den Fair-Teiler, der ein Selbstläufer sei. Etwas gehört aber schon dazu. Etwas, das begründen könnte, warum es in Stuttgart nur fünf Fair-Teiler gibt: „Wir stellen den Raum, putzen, achten darauf, dass nichts Verdorbenes drin ist – und wir haben die Verantwortung: Wenn sich einer eine Lebensmittelvergiftung einfangen würde, müssten wir den Kopf hinhalten“, sagt Backhaus, der nach eigenem Bekunden seinen Mitmenschen einen Vertrauensvorschuss entgegenbringt. Der wurde im Zusammenhang mit dem Fair-Teiler erst einmal angeknapst, als ein Thermometer geklaut wurde, das eigens für den Kühlschrank angeschafft worden war. Bei einem Raum, der immer offen steht, aber trotzdem kein schlechter Schnitt: „Die Solidarität in Degerloch funktioniert“, sagt der 31-Jährige.

Das Stichwort Solidarität darf nicht fehlen, wenn es um Foodsharing geht. In der Küche des Hauses, das sich Backhaus mit fünf anderen teilt, erzählt er, was hinter dem Fair-Teiler steckt. Er spricht über die ideelle Grundlage, darüber, dass es ein Irrsinn ist, „wenn 30 Prozent der Lebensmittel weggeworfen werden, nachdem sie dreimal die Welt umrundet haben“ und dass das Food-Sharing, also das Teilen von Nahrungsmitteln, auch die Solidarität unter den Leuten fördert. Über dem WG-Herd hängt ein Zettel, der das Essen auf den Platten als Gemeingut deklariert. Tatsächlich sind die Bewohner der Löwen-WG auf einer Wellenlänge, teilen eine ideologische Grundlage, wie Backhaus sagt. Ein „gemeinsames Ziel“ verfolgten sie aber nicht. „Wir sind so semi-alternativ“, meint der Älteste in der Wohngemeinschaft.

Leute schätzen das Dörfliche

Im November 2015 hat sich Backhaus bei der Initiative Foodsharing angemeldet. „Ich hatte davon gehört und es als niederschwellige Möglichkeit gesehen, etwas Wirksames zu tun“, sagt der Gymnasial-Referendar. Und nicht nur seine Mitbewohner, sondern sogar die Nachbarschaft zog mit: Der kleine Kühlschrank im Schuppen sei eine Dauerleihgabe eines Nachbarn, und häufig holten sich Nachbarn etwas aus dem Fair-Teiler und brächten es verarbeitet wieder zurück. Backhaus meint, das liege auch daran, wie die Wohngemeinschaft auf die Menschen zugehe: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die Leute im Lokalen oder Dörflichen sehr schätzen, wenn man offen auf sie zugeht“, sagt der Mann aus Münsingen.

Aus dieser Offenheit entsprang zuletzt die Idee, den Garten hinterm Haus zu einem Gemeinschaftsgarten umzufunktionieren, in dem jeder, der Lust hat, ein Beet anlegen darf. Vielleicht wird es aber doch noch etwas mit dem Umsonst-Laden, den Backhaus gerne einrichten würde. „Man müsste, man müsste“, sagt er. Der Fair-Teiler selbst soll aber nicht wachsen oder beworben werden, der sei groß genug, so wie er ist: „Ich bin erst einmal froh und zufrieden damit“, sagt Philipp Backhaus. Manchmal lassen sich Wunsch und Wirklichkeit eben doch miteinander vereinen.

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