Die 19-jährige Jesidin Aschwak T. will in Schwäbisch Gmünd ihren früheren IS-Peiniger wiedererkannt haben. Der Fall habe zu großer Verunsicherung unter den hier lebenden Jesidinnen geführt, sagt der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan im Interview. Die Behörden sollten darauf reagieren.

 

Stuttgart - Der Fall der 19-jährigen Jesidin Aschwak T. aus Schwäbisch Gmünd, die nach einer unheimlichen Begegnung zurück in den Nordirak ging, wirft weiter Fragen auf. Professor Jan Ilhan Kizilhan, medizinisch-psychologischer Leiter das Sonderprogramms zur Aufnahme schutzbedürftiger Jesidinnen aus dem Nordirak und Syrien, versucht Antworten zu geben.

Herr Professor Kizilhan, wie erleben Sie den Fall rund um die junge Jesdin Aschwak?

Ich war nicht überrascht, dass solche Nachrichten kommen. Seit der sogenannte Islamische Staat in der Defensive ist, muss man damit rechnen, dass IS-Kämpfer auch auf dem Weg nach Europa sind. Im Augenblick befindet sich eine größere Gruppe in der Türkei, andere harren bis auf Weiteres in nordafrikanischen Ländern aus.

Das Bedrohungsszenario, das die junge Jesidin schildert, ist also real?

Ich habe Aschwak 2015 untersucht, als sie hierher kam. Sie ist für mich glaubwürdig. Die Frage ist allerdings, ob ihre Schilderung tatsächlich reell ist: Hat sie den Täter gesehen oder jemanden, der ihm ähnlich ist? Aus der Psychotraumatologie weiß man, dass das Gedächtnis einem durchaus einen Streich spielen kann. Ich maße mir da aber kein Urteil an. Ich kann nachvollziehen, dass sie Angst hat. Die andere Frage ist, gibt es einen Grund in den Irak zu gehen, weil es dort vermeintlich sicherer ist.

Ist es das?

Eindeutig nein. Seit 2014 bin ich jedes Jahr mehr als zehn Mal im Irak, ich leite das Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok im Nordirak. Dort werden mit Unterstützung des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums Psychotherapeuten ausgebildet. Von den vielen Besuchen dort weiß ich, dass die Aktivitäten des IS noch sehr stark sind, auch wenn man hier den Eindruck hat, der Islamische Staat sei besiegt. Das ist nicht der Fall. Der IS ist zum Teil noch gut positioniert und das nicht allzu weit entfernt von den Flüchtlingscamps. Das Sindschar-Gebirge, die Heimat der Jesiden, wird zum Teil von schiitischen Milizen kontrolliert; vor wenigen gab es in der Gegend Luftangriffe der Türkei. Es ist ein Kriegsgebiet. Dort gibt es im Vergleich zu Deutschland keine Sicherheit. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Behörden und Aschwak schneller zusammengefunden hätten und man ihr das Gefühl gegeben hätte, dass sie gefahrlos in Deutschland bleiben kann.

Innenminister Thomas Strobl sieht keine Versäumnisse der Behörden.

Von früheren Fällen weiß ich, dass Polizei und Bundesanwaltschaft auf solche Hinweise tatsächlich schnell reagiert und Kontakt mit den Frauen aufgenommen haben. Es gibt auch die Neigung, Behörden zu überschätzen. Neulich sagte mir eine Jesidin: „In Deutschland muss man immer warten.“ Dazu muss man wissen, dass diese Menschen Erfahrungen mit einer Diktatur gemacht haben, in der die Behörden alles unter Kontrolle hatten. In der Ära von Saddam Hussein konnten sich die Menschen nicht bewegen, ohne kontrolliert und beobachtet zu werden. Das führt dazu, dass die Leute glauben, die Behörden seien allmächtig.

Sind Ihnen Fälle bekannt, in denen es zu Übergriffen auf Jesidinnen in Deutschland gekommen ist?

Zu einem tätlichen Angriff ist es meines Wissens bisher nicht gekommen. Wir wissen aber, dass es in Chats und sozialen Medien solche Bedrohungen gibt. Es kommt auch vor, dass die Frauen Anfeindungen durch radikale Muslime ausgesetzt sind. Ich kenne den Fall einer Jesidin, die im Deutschkurs einen Afghanen traf, der zu ihr sagte: „Was euch Jesidinnen passiert ist, ist zurecht geschehen.“ Der Mann wurde dann aus dem Deutschkurs genommen. Solche Dinge gibt es.

Was hat der Fall Aschwak unter den hier lebenden Jesidinnen ausgelöst?

Er hat viel Unsicherheit hervorgerufen. Wenn die Frauen auf die Straße gehen, erleben sie wieder diese Unsicherheit. Sie müssen erneut stabilisiert werden. Daran müssen wir sozialtherapeutisch arbeiten. Ich würde mir aber auch wünschen, dass die Behörden jetzt stärker auf sie zugehen, sie über die Ermittlungsarbeit aufklären und ihnen Sicherheit vermitteln. Der Polizei kann ich als Psychotherapeut dringend raten, in Kontakt mit den Frauen zu treten und gemeinsames Vertrauen aufzubauen. Sie müssen lernen, dass die Polizei in Deutschland nicht etwa foltert , sondern für einen Rechtsstaat arbeitet.

Haben Sie direkten Kontakt zu Aschwak?

Ich bin nächste Woche dort und werde versuchen sie zu treffen, um zu sehen, wie es ihr geht. Ich mache mir Sorgen, dass in ihrem Gedächtnis viele schlimme Erinnerungen aktiviert wurden und es ihr nach dem ganzen Rummel nicht gut geht.

Sie braucht Betreuung?

Genau. Ich werde anbieten, ihr eine Therapeutin aus unserem Institut zu vermitteln.

Aschwak hat betont, dass sie nicht nach Deutschland zurückkommen will.

Nach meinen Informationen hat die Familie einen Antrag gestellt, nach Australien auszuwandern.