Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

„Keine Methode, um derartig schweren Sadismus zu behandeln“

Für den Psychiater Leygraf gibt es keinen Zweifel, wo sich Bartsch heute – 50 Jahre später – befände, würde er heute noch leben: „In der Forensik in Eickelborn. Bislang gibt es noch keine Methode, um einen derartig schweren Sadismus so zu behandeln, dass man jemanden guten Gewissens entlassen könnte.“

 

In zwei Strafprozessen gegen Bartsch sorgt der Münchner Star-Anwalt Rolf Bossi (1923-2015) für Furore. Er lenkt die Blicke auf die schreckliche Kindheit des Mannes, der sich in Briefen selbst als „Bestie“ bezeichnete.

„Der Fall hat die Strafjustiz verändert“

Mark Benecke. Foto: Michael Käfer
„Der Fall hat die Strafjustiz verändert“, unterstreicht der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke. Benecke hat die Gerichtsakten im Staatsarchiv studiert und besitzt einen Teil der Korrespondenz des Serienmörders. Ein Journalist schreibt später, der Fall Bartsch habe dafür gesorgt, dass in ähnlichen künftigen Fällen nicht mehr nach dem Henker, sondern nach dem Arzt gerufen wird.

Revision des ersten Urteils gegen Bartsch

Dem ersten Urteil des Landgerichts Wuppertal sieht man das noch nicht an: Lebenslanges Zuchthaus für Bartsch, der bei den meisten Morden an den acht- bis 13-jährigen Jungen noch minderjährig war. Doch der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf und bei der Neuauflage in Düsseldorf erhält Bartsch 1971 zehn Jahre Jugendhaft und die anschließende Einweisung in eine Heilanstalt.

Warum werden Menschen wie Jürgen Bartsch zu „Bestien“?

Spaß an der Gewalt und der Dominanz über andere

„Es gibt gerade im Bereich schwerer Gewalt Menschen, die haben keine Empathie“, erklärt die Gießener Strafrechtlerin und Kriminologin Britta Brannenberg. „Sie sehen den anderen nicht als Menschen und empfinden kein Mitgefühl, sie denken nur an sich selbst und die Durchsetzung ihrer Interessen. Sie können auch aus verschiedenen Gründen Spaß an der Gewalt und der Dominanz über andere Menschen haben. Teilweise ist dies genetisch bedingt. Bei vielen kommen aber negative Erfahrungen, insbesondere Vernachlässigungen oder Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, hinzu.“

Das ist auch bei Jürgen Bartsch der Fall. Schnell fällt der Blick der Ermittler und der psychiatrischen Gutachter auf die ungewöhnliche Kindheit des Serienmörders: Seine leibliche Mutter lässt den Neugeborenen auf der Säuglingsstation zurück, kurz darauf stirbt sie. Elf Monate lang päppeln ihn Krankenschwestern im Schichtdienst. „Die Grundeinstellung zum Leben wird im ersten Lebensjahr geprägt: durch das Gefühl, willkommen zu sein auf dieser Welt, dass man da eben nicht alleine liegt und niemand kümmert sich, wenn man schreit“, sagt Leygraf.

Erster Mord mit 15

Dann adoptieren der kinderlose Metzgermeister Gerhard Bartsch und seine Ehefrau Gertrud, die im Arbeitervorort Essen-Katernberg zwei gut gehende Metzgereien betreiben, das Baby. „Die Stiefmutter passte in fataler Weise zu seiner Störung und hat sie verstärkt: extrem rigide im Umgang, unberechenbar, launisch. Mit 18 wurde Jürgen Bartsch noch von der Stiefmutter gebadet, was einer inzestuösen Handlung nahekommt“, berichtet Leygraf.

1958 kommt Jürgen Bartsch mit elf Jahren in das Salesianer-Internat in Aulhausen am Rhein. Dort soll der stille, verschlossene Junge das Missbrauchsopfer eines katholischen Priesters geworden sein. 1972 werden die Ermittlungen gegen den Verdächtigen, Salesianer-Pater Gerhard Pütz aus dem Don-Bosco-Haus in Aulhausen, eingestellt. Der Geistliche soll ihn – so wird Bartsch später im Gerichtsprozess aussagen – vor Frauen gewarnt, Sexualität verteufelt und täglich über die „schwere Sünde der Onanie“ gesprochen haben, die „direkt nach Mord“ komme. Das Heim geht 1970 an die Stadt Köln über und wird später geschlossen.

Die permanenten Ohnmachtserlebnisse kehrt Bartsch schließlich in seinen sadistischen Handlungen um. „Da hat er das Heft in der Hand, die Kontrolle“, erklärt Leygraf. Seinen ersten Mord begeht Bartsch mit 15 Jahren: „Es gibt nur sehr wenige, die so jung schon solche Taten begehen. Das ist ein Hinweis darauf, wie stark seine Störung war.“

Als Mörder geboren?

Britta Bannenberg. Foto: dpa
Ob jemand in extrem gewalttätiger Form agiert, habe auch damit zu tun, in welchem Umfeld er aufwächst, betont Kriminologin Bannenberg. Erwachsene seien prägend gerade für die frühen Erfahrungen. Werde von Erziehenden Gewalt ausgeübt und befürwortet, fehle es an warmherzigen Beziehungen und Verhaltenskontrolle, seien das gewalt- und kriminalitätsfördernde Voraussetzungen.

Britta Bannenberg: „Merkt ein Kind, dass es sich mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt durchsetzen kann, lernt es, Gewalt positiv zu bewerten. Deshalb würde ich Horrorszenarien wie ‚Als Mörder geboren‘ auch nicht an die Wand malen.“

Nach Bartschs Festnahme 1966 stoßen die Ermittler auf einen freundlichen jungen Mann, der bereitwillig Auskunft gibt und selbst mit seiner Monstrosität nicht hinter dem Berg hält.

„Bartsch hat unter seinen Taten und seinen eigenen Fantasien selbst gelitten und wollte sie loswerden. Einen Mangel an Empathie, wie bei vielen Tätern dieses Kalibers, gab es bei ihm nicht“, berichtet Leygraf. „Normalerweise braucht man sehr viel mehr Zeit, um Leute dazu zu bringen, über den tatsächlichen sadistischen Hintergrund ihrer Taten zu reden.“

Was wäre aus Bartsch geworden?

„Keine Methode, um derartig schweren Sadismus zu behandeln“

Für den Psychiater Leygraf gibt es keinen Zweifel, wo sich Bartsch heute – 50 Jahre später – befände, würde er heute noch leben: „In der Forensik in Eickelborn. Bislang gibt es noch keine Methode, um einen derartig schweren Sadismus so zu behandeln, dass man jemanden guten Gewissens entlassen könnte.“

In zwei Strafprozessen gegen Bartsch sorgt der Münchner Star-Anwalt Rolf Bossi (1923-2015) für Furore. Er lenkt die Blicke auf die schreckliche Kindheit des Mannes, der sich in Briefen selbst als „Bestie“ bezeichnete.

„Der Fall hat die Strafjustiz verändert“

Mark Benecke. Foto: Michael Käfer
„Der Fall hat die Strafjustiz verändert“, unterstreicht der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke. Benecke hat die Gerichtsakten im Staatsarchiv studiert und besitzt einen Teil der Korrespondenz des Serienmörders. Ein Journalist schreibt später, der Fall Bartsch habe dafür gesorgt, dass in ähnlichen künftigen Fällen nicht mehr nach dem Henker, sondern nach dem Arzt gerufen wird.

Revision des ersten Urteils gegen Bartsch

Dem ersten Urteil des Landgerichts Wuppertal sieht man das noch nicht an: Lebenslanges Zuchthaus für Bartsch, der bei den meisten Morden an den acht- bis 13-jährigen Jungen noch minderjährig war. Doch der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf und bei der Neuauflage in Düsseldorf erhält Bartsch 1971 zehn Jahre Jugendhaft und die anschließende Einweisung in eine Heilanstalt.

Rolf Bossi. Foto: dpa
Sein Anwalt Rolf Bossi betont damals, die Sachverständigen-Gutachten würden „für die gesamte Strafrechtspflege richtungsweisend“ sein. Sie seien ein „Markstein in der forensischen Gerichtspsychiatrie“. Er sollte Recht behalten.

Bartsch rechnet offenbar damit, wieder auf freien Fuß zu kommen. Er ist bereit, sich einer angeblich triebhemmenden Operation am Gehirn zu unterziehen. Doch der Täter gilt als inoperabel.

1974 heiratet er in der Haft eine körperbehinderte Krankenpflegerin aus Essen, die glaubt, ihn heilen zu können. Drei Jahre später, 1977, wird die Witwe, Gisela Bartsch, dem „Spiegel“ ein Interview“ geben.

Schließlich lässt sich Jürgen Bartsch am 28. April 1976 in der Landesheilanstalt Eickelborn bei Soest kastrieren. Er stirbt im Alter von 29 Jahren bei der von ihm selbst gewünschten Kastration an einem schweren Narkosefehler des Operateurs. Der Arzt wird später wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Es gibt keine Prävention von Serienmorden

Hätte man die sadistischen Neigungen Bartschs schon früher erkennen und so vielleicht die Kinder retten können? „Verbrechen präventiv zu erkennen und potenzielle Täter vorsorglich wegzusperren, das ist Hollywood. Ich glaube, so etwas wird nicht passieren. Das sind Szenarien von Regisseuren und Nicht-Juristen“, sagt Britta Banneberg.

„Menschen mit sadistischen und devianten (also von der Norm abweichenden) Sexual- und Gewalt, auch Tötungsfantasien haben keine Empathie und fühlen sich anderen überlegen,werten sie ab“, erklärt die Gießener Kriminologin. „Sie empfinden keine Reue und genießen ihre Vorstellungen, die sie irgendwann auch gegenüber fremden Opfern in die Tat umsetzen. Diese Täter suchen ihre Opfer.“

„Bei Nacht und Nebel verscharrt“

Nach dem Tod seines Sohnes fährt der Vater Gerhard Bartsch mit dem Sarg im Auto durch das Ruhrgebiet, fragt bei Friedhöfen nach. Doch niemand will seinen toten Sohn haben, nirgendwo erhält er die Genehmigung zur Bestattung. Dann endlich erklärt sich ein Essener Friedhof bereit, den Leichnam verbrennen zu lassen und die Urne mit der Asche Jürgen Bartschs anonym zu bestatten.

„Jürgen Bartsch wurde dann bei Nacht und Nebel verscharrt“, wird sein Anwalt Rolf Bossi später sagen. „Sein Name durfte nicht auf den Grabstein.“

2002 verfilmt der WDR das Leben des Serienmörders in der Filmbiografie „Ein Leben lang kurze Hosen tragen“. Das Drehbuch basiert auf den Büchern „Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch“ (1972) und „Jürgen Bartsch: Opfer und Täter“ (1991) des deutsch-amerikanischen Journalisten und Autors Charles Paul Moor (1924-2010). Nach dem ersten Prozess 1967 nahm Moor Kontakt zu Jürgen Bartsch auf und wurde über acht Jahre hinweg eine Art Vaterfigur für den damals 19-jährigen Mörder.