Mesut Özil fährt gegen den DFB schwere Geschütze auf, spricht von Rassismus. Auch wenn vieles übertrieben erscheint – die Luft um den Verbandsboss Grindel wird immer dünner.

Stuttgart/Frankfurt - Es ist noch sehr früh am Montagmorgen, als Uli Hoeneß den letzten Beweis antritt, auch in der Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech nicht zur Besinnung gekommen zu sein. Auf dem Münchner Flughafen steht der verurteilte Steuersünder und Präsident des FC Bayern und prügelt wortgewaltig auf jenen Mann ein, der kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft für ein Foto mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan posiert und das Land mit seinem anschließenden Schweigen wochenlang in Atem gehalten hat. Mesut Özil habe „seit Jahren einen Dreck gespielt“ und „den letzten Zweikampf vor der WM 2014 gewonnen“. Und jetzt „versteckt er sich und seine Mist-Leistung hinter diesem Foto“. Hoeneß ist froh, „dass dieser Spuk endlich vorbei ist“.

 

Dann steigt der Mann ins Flugzeug nach Amerika. Der Spuk in seiner Heimat aber ist noch lange nicht vorbei. Wie es scheint, geht es jetzt erst richtig los.

Eine gnadenlose Abrechnung

Es ist Tag eins nach dem Erdbeben, das Mesut Özil und sein Beraterteam mit ihrem beispiellos inszenierten Rachefeldzug in drei Akten ausgelöst haben. In den sozialen Netzwerken schickte Deutschlands bekanntester Fußballer über den Sonntag hinweg seinen insgesamt fast 72 Millionen Followern auf der ganzen Welt erst wortreiche Rechtfertigungen für das Foto mit Erdogan („Es war aus Respekt vor dem höchsten Amt des Landes meiner Familie“). Dann folgte eine gnadenlose Abrechnung mit Sponsoren und Medien. Den größten Knalleffekt aber hatte sich Özil für Teil drei aufgehoben: Er enthielt am Abend seinen sofortigen Rücktritt aus der deutschen Nationalmannschaft und schwerste Vorwürfen gegen den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel.

„Ich werde nicht länger als Sündenbock dienen für seine (Grindels) Inkompetenz und seine Unfähigkeit, seinen Job ordentlich zu erledigen“, so las man staunend in englischer Sprache. Oder: „In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren.“ Und schließlich: „Leute mit rassistisch diskriminierendem Hintergrund sollten nicht länger im größten Fußballverband der Welt arbeiten dürfen.“

Reinhard Grindel (56), früherer ZDF-Journalist und CDU-Politiker – in den Augen von Mesut Özil ein Dilettant, ein Populist, ja sogar ein Rassist, dem das Amt des DFB-Präsidenten schnellstmöglich entzogen gehört. So brachial hat noch keiner gegen den Verband polemisiert.

Ein Anflug von Selbstkritik beim DFB

Es dauert lange, bis aus der DFB-Zentrale in Frankfurt eine Antwort kommt. Seit Sonntagmittag, seit Teil eins von Özils Rundumschlag, tagte der Krisenstab, zu dem aus seinem Urlaub auch Reinhard Grindel zugeschaltet ist. Am Montagnachmittag um 14.37 Uhr schließlich verschickt die Kommunikationsabteilung nach einer weiteren Telefonkonferenz eine Pressemitteilung. Sie trägt die Überschrift „Erklärung des DFB zum Rücktritt von Mesut Özil“ und ist so etwas wie das Gegenteil von Özils Einlassungen: man spürt zumindest einen Hauch von Selbstkritik und einen gemäßigten Tonfall, der die völlig außer Kontrolle geratene Debatte auf die Sachebene zurückzuführen versucht.

„Dass der DFB im Umgang mit dem Thema auch einen Beitrag geleistet hat, räumen wir selbstkritisch ein“, heißt es in der Erklärung. Man bedauere es, „dass Mesut Özil das Gefühl hatte, als Ziel rassistischer Parolen gegen seine Person nicht ausreichend geschützt worden zu sein“. Doch sei es dem Verband wichtig gewesen, dass Özil „mit Blick auf dieses Foto Antworten gibt, unabhängig vom sportlichen Ausgang des Turniers in Russland. Im DFB gewinnen und verlieren wir zusammen, alle, als ein Team.“ Ein Bekenntnis zu den im Grundrecht verankerten Menschenrechten sei „für jede Spielerin und für jeden Spieler erforderlich, die für Deutschland Fußball spielen“. Man hätte sich „gefreut, wenn Özil auf dieser gemeinsamen Basis weiter Teil des Teams hätte sein wollen. Er hat sich anders entschieden.“ Gleichwohl „ist und bleibt der DFB Mesut Özil für seine herausragenden Leistungen im Trikot der Nationalmannschaften sehr dankbar“.

Es mehren sich die Rücktrittsforderungen

„In aller Deutlichkeit“ weist es das DFB-Präsidium zwar zurück, „mit Rassismus in Verbindung“ gebracht zu werden – übt ansonsten aber Nachsicht mit Özils Frontalangriff: „Zum respektvollen Umgang mit einem verdienten Nationalspieler“ gehöre es, „dass wir manche für uns in Ton und Inhalt nicht nachvollziehbare Aussage in der Öffentlichkeit unkommentiert lassen“.

Die Deeskalationsstrategie ändert wenig daran, dass die Luft für Reinhard Grindel sehr dünn geworden ist. Unmissverständliche Rücktrittsforderungen erhebt nicht allein Mesut Özil, sie kommen auch aus der Politik, der Türkischen Gemeinde in Deutschland – und von Harald Stenger, dem langjährigen Medienchef des DFB. Grindel sei „der schlechteste DFB-Präsident in den letzten 50 Jahren“, sagt Stenger am Montag im „ARD-Morgenmagazin: „Und deshalb wäre er gut beraten, den Weg für einen Nachfolger frei zu machen.“

Spätestens seit Özils Attacke ist nicht mehr die historische WM-Blamage in Russland oder die rätselhafte Vertragsverlängerung mit Bundestrainer Joachim Löw vor dem Turnier Grindels größtes Problem – sondern seine unglückselige Rolle im „Erdogate“. Als DFB-Präsident trägt er nicht nur die sportpolitische Verantwortung für diese aus dem Ruder gelaufene Debatte – er hat (genau wie Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff) auch noch tatkräftig zur völligen Eskalation beigetragen.

Erst verkannte Grindel die Dimension dieses Themas und versuchte, es vor und während der WM kleinzureden. Nach dem Vorrundenaus in Russland sah der Präsident dann in Özil den Sündenbock und setzte dem schweigenden Weltmeister ein Ultimatum. Es war nach der Sommermärchen-Affäre das nächste Kommunikationsdesaster, bei dem die DFB-Führung ein Bild des Jammers bot.

Sehen Sie im Video: Das sagen die Menschen in Stuttgart:

Auch Grindels politische Vergangenheit stößt auf Kritik

Im Zuge der verunglückten Aufarbeitung der Heim-WM 2006 war Reinhard Grindel im April 2016 auf Initiative der Amateurlagers im DFB zum Nachfolger von Wolfgang Niersbach gewählt worden. Der bisherige Schatzmeister propagierte einen Neuanfang und Transparenz – und konnte nicht verhindern, dass sich auch weiterhin eine Panne an die nächste nächste reihte. Die Sommermärchen-Affäre ist noch immer nicht ausgestanden, es gab heftigen Streit unter den Schiedsrichtern, und zuletzt geriet auch noch DFB-Generalsekretär Friedrich Curtius in Verlegenheit. Er soll einem Schulfreund einen lukrativen Vertrag mit seinem Verband zugeschanzt haben. „Beim DFB“, polterte am Freitag Bayern-Boss Karl-Heinz Rummenigge im besten Uli-Hoeneß-Stil, „haben komplett Amateure das Geschehen übernommen. Mir fehlt da die Fußball-Kompetenz.“

Inzwischen wird aber nicht mehr nur Grindels Überforderung als Deutschlands oberster Fußballfunktionär durchleuchtet – sondern auch seine politische Gesinnung. Es wird daran erinnert, dass er als Bundestagsabgeordneter der CDU und Mitglied des Innenausschusses Zuwanderung als Bedrohung sah. In Asylfragen stand er dem Kurs des CSU-Chefs Horst Seehofer viel näher als Angela Merkels Willkommenspolitik. Von 2002 bis 2016 saß er im Bundestag und machte sich für eine verschärfte Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer stark. Damit lasse sich viel Geld sparen, zudem seinen Flüchtlinge „auch ein Kriminalitätsrisiko“.

Lange wandte sich der Rechtsaußen aus der CDU-Hinterbank auch gegen eine Liberalisierung der Einreisekriterien für ausländische Fachkräfte. „Wenn wir die Regelungen einen Spalt öffnen, stoßen andere die Türe ganz auf, und es wandern Menschen in Deutschland ein, an die wir gar nicht gedacht haben.“ 2004 erklärte er im Bundestag: „Multikulti ist in Wahrheit Kuddelmuddel. Es ist eine Lebenslüge.“

Inzwischen scheint Reinhard Grindel seine Überzeugungen geändert zu haben. Sein Bedauern über den Rücktritt von Mesut Özil ergänzt er mit dem Hinweis: „Das ändert nichts an der Entschlossenheit des Verbandes, die erfolgreiche Integrationsarbeit weiter konsequent und aus tiefer Überzeugung fortzusetzen.“