Der Star-Sprinter Oscar Pistorius war ein Übermensch und ein versehrter Mann. Daran ist der „schnellste Mann der Welt ohne Beine“ zerbrochen.

Johannesburg - Spätsommer in Pretoria: im Diplomatenviertel Waterkloof schlendern Schulkinder in adretten Uniformen heimwärts, Gärtner halten die Vorgärten hinter hohen Mauern grün, ein Bautrupp ist damit beschäftigt, eine der stattlichen Villen noch stattlicher zu machen. Vor jedem zweiten Anwesen sitzt ein Wachmann, der die warme Luft rein halten soll: „Ja, er ist hier“, bestätigt der Sicherheitsmann vor Haus Nummer 230: „Aber wenn sie Journalist sind, melde ich sie gar nicht erst an.“

 

Oscar Pistorius will in Ruhe gelassen werden. Vielleicht sitzt der beinamputierte Leistungssportler gerade am Pool, liest – wie angeblich immer öfters – die Bibel oder starrt Löcher in die Luft. Aussagen über den aus olympischen Höhen in die Versenkung gefallenen Star haben längst nur noch spekulativen Charakter: Seit Wochen bekommt die Öffentlichkeit den 26-Jährigen nicht mehr zu Gesicht. Dass es ihm schlecht geht, kann als Tatsache betrachtet werden. „Ich mache mir Sorgen um Oscar“, sagt ein Freund, der noch Zugang zu dem im Haus seines Onkels Verschanzten hat: „Ich hoffe, er tut sich nichts an.“

Vor wenigen Wochen sah die Lawley Street noch wie ein Filmset aus. Fernsehstationen parkten ihre Übertragungswagen vor den manikürten Vorgärten, Reporter schlenderten mit ihren ans Ohr gepressten Handys auf und ab, Fotografen campierten in neben ihren Motorrädern aufgeschlagenen Einmannzelten. In den Medien gab es nach dem 14. Februar tagelang kein anderes Thema mehr. Janine Hills, damalige Pressesprecherin der Pistorius-Familie, musste gegen eine Flut von täglich bis zu 500 Anrufen und 2000 E-Mails ankämpfen: „Keiner von uns hatte einen Schimmer, wie groß Oscar in aller Welt tatsächlich war.“

Wie Millionen seiner Landsleute wachte Radioreporter Barry Bateman am Morgen des Valentinstags mit einer unglaublich klingenden Nachricht auf. Sportidol Oscar Pistorius habe seine Freundin, das 29-jährige blonde Fotomodell Reeva Steenkamp, erschossen, meldete sein Sender 702: Es habe sich um einen tragischen Unfall gehandelt, beteuerte Pistorius. Schnell werden jedoch Zweifel an der Darstellung des einzigen Zeugen laut. Ob der Athlet seine Freundin tatsächlich in der Dunkelheit für einen Einbrecher hielt oder ob er sie mit vier durch die Toilettentür abgefeuerten Schüssen absichtlich tötete, hält tagelang die halbe Welt in Atem.

Bateman wird diese Frage noch Jahre beschäftigen, denn nach Abschluss des Ende dieses Jahres beginnenden Hauptverfahrens will der Reporter ein Buch über den gefallenen Heroen schreiben. Über dessen Absatz muss sich Bateman keine Sorgen machen: „Es gibt keinen besseren Thriller-Stoff“, meint ein Verleger. Die Geschichte eines verkrüppelten Jungen, der mit eisernem Willen zum olympischen Star aufsteigt und auf dem Höhepunkt seines Ruhms seine schöne Partnerin – absichtlich oder aus Versehen – tötet, enthält alle Zutaten einer klassischen Tragödie: Es geht um Launen der Natur, um Kampf, Triumph – und um einen tiefen Fall.

Kontrast zu den Bildern, die man von Pistorius gewohnt war

Vier Tage lang konnte Barry Bateman seine Hauptfigur aus nächster Nähe studieren: So lange saß der Reporter im Saal C des Magistratsgerichtes von Pretoria, wo Ende Februar über die Freilassung des Angeklagten auf Kaution hin verhandelt wurde. In unmittelbarer Nähe zu Pistorius positioniert, sendet der Reporter während der Anhörung fast 500 Tweeds in den Äther und treibt seine „Followerschaft“ innerhalb von vier Tagen von weniger als zehntausend auf über 130 000 in die Höhe. „Oscar bricht erneut zusammen“, meldet der Cybergraf am 19. Februar um 12.32 Uhr. Und wenige im Minutentakt abgesandte Tweeds später: „Das Verfahren wird unterbrochen . . . Oscar hat den Kopf zwischen den Händen verborgen und schluchzt unkontrolliert.“

Welcher Kontrast zu den Bildern, die die Welt von dem Athleten gewohnt war! Die Arme weit ausgebreitet, den Kopf in Richtung der höchsten Stadionränge gereckt: Einmal mehr überquert der „schnellste Mann der Welt ohne Beine“ mit federnden Schritten als Erster die Ziellinie. Sieben Mal bricht Pistorius einen Weltrekord, bei den Paralympics heimst er insgesamt sechs Goldmedaillen ein. Schließlich schafft er den geschichtsträchtigsten aller Rekorde: Als erster amputierter Läufer wird er zu den Olympischen Spielen in London zugelassen. Dort qualifiziert sich der Blade Runner im 400-Meter-Lauf fürs Halbfinale: TV-Crews und Fotografen lassen selbst Usain Bolt links liegen, um sich in Scharen auf den Ausnahmeathleten zu stürzen.

Den Erfolg verdanke er vor allem seiner Mutter, erklärt Pistorius in einem seiner Interviews. Sie hatte ihrem ohne Wadenbeinknochen auf die Welt gekommenen Jungen nach der Amputation beider Beine im zarten Alter von elf Monaten einen Brief geschrieben, den er später zu lesen bekam. „Nicht wer als Letzter durch die Ziellinie läuft, ist ein Verlierer“, heißt es darin: „Der wirkliche Verlierer ist derjenige, der statt anzutreten an der Seite sitzen bleibt.“ Oscar beherzigt den Rat, lernt wie ein gesunder Bursche laufen, spielt später Tennis, Cricket, Rugby und wendet sich nach einer schweren Knieverletzung auf dem Rugbyfeld der Leichtathletik zu. Seine Mutter stirbt, als Oscar 15 Jahre alt ist. Er lässt sich ihr Geburts- und Todesdatum auf seinen rechten Arm tätowieren, und auf den linken Arm: „1. Korinther 9 Vers 26+27“. „Ich laufe nicht ins Blaue hinein“, schreibt dort Paulus an die Gemeinde in Korinth: „Ich zerschlage meinen Leib und mache ihn mir untertan.“ Sein Sportsfreund trainierte so hart, dass er nach gemeinsamen Übungen mit ihm manchmal regelrecht krank gewesen sei, erzählt der britische Läufer Iwan Thomas. Gewinnen war für Pistorius alles.

Hochleistungssportler hätten nicht selten eine „schwierige Vergangenheit“ hinter sich, sagt der Johannesburger Sportpsychologe Martin Scheepers. Ihr Siegeswille werde oft „von einer tiefen seelischen Verletzung“ genährt: Anders wären die Entbehrungen, die eine Sportlerkarriere mit sich bringt, kaum zu ertragen. In einem Interview sagte der amerikanische Basketballstar Michael Jordan, er habe lange unter dem Eindruck gelitten, dass sein Vater seinen älteren Bruder bevorzuge: Zur Kompensierung dieses Defizits habe er sich zu höchsten sportlichen Leistungen getrieben.

Pistorius’ Verletzungen liegen noch tiefer. „Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es für einen Behinderten ist, sich mit seinem als mangelhaft erlebten Körper zu versöhnen“, sagt die mit Behinderten arbeitende Johannesburger Psychologin Jutta van Dalsen. In der Regel sei dafür eine jahrelange therapeutische Auseinandersetzung nötig. Pistorius wählte einen anderen Weg. Er suchte seine Behinderung damit auszugleichen, dass er seinen Körper zu Höchstleistungen peitschte.

Diskrepanz zwischen Vergötterung und Erniedrigung

Das Image des alle Hürden überwindenden Siegertypen begeisterte die Welt – und bescherte der Werbeindustrie eine hochwillkommene Symbolfigur. Er wird zum Übermenschen. Auch der Bekleidungskonzern Nike beteiligt sich an der Überhöhung des behinderten Sportlers zur männlichen Ikone. „Das ist der Körper, den ich bekommen habe“, lässt er seinen Marken-Botschafter sagen: „Er ist die Waffe, mit der ich meinen Krieg führe.“ Und unter einem Foto, in dem der Athlet vor stahlgrauem Himmel aus den Startblöcken schießt, heißt es, das Unheil vorausnehmend: „Ich bin die Kugel in der Trommel.“ Nach den Ereignissen am Valentinstag zieht die Firma die Kampagne schnell aus dem Verkehr. Die Diskrepanz zwischen seiner Vergötterung und der täglich erlebten Erniedrigung – wenn er etwa des nachts auf den Knien zur Toilette hoppeln muss – habe den Mann vermutlich „fast zerrissen“, gibt Sportpsychologe Scheepers zu bedenken. Die Gefühle der extern gefeierten Allmacht und der intern erlebten Ohnmacht seien wohl „nicht mehr länger zu harmonisieren gewesen“. Die Spannungen hätten sich bereits in einem zunehmend aggressiven Verhalten Pistorius’ bemerkbar gemacht, fährt Scheepers fort: Einmal warf er ein Mädchen, das sich bei einer Party angeblich danebenbenahm, mit Gewalt aus seinem Haus; ein andermal drohte er einem Nebenbuhler an, ihm „beide Beine zu brechen“; schließlich bezichtigte er einen Laufkonkurrenten, der ihn geschlagen hatte, des Betrugs.

Nach seiner Verhaftung wollen plötzlich viele gewusst haben, dass der Held keiner war. Oscar habe unter dem Einfluss von Steroiden gehandelt, heißt es etwa. Oder: er habe die schwangere Reeva mit einem Baseballschläger erschlagen. Nichts davon ist wahr: Doch für die Demontage des Helden schrecken Journalisten selbst vor Falschmeldungen nicht zurück. „Ruiniert!“, schreit das südafrikanische „You“-Magazin auf dem Titelblatt. Und das US-Magazin „Time“, das Pistorius 2012 als „Ausgeburt globaler Inspiration“ in den Kreis der einhundert einflussreichsten Menschen aufnahm, titelt jetzt: „Man. Super Man. Gun Man.“

Absicht oder Versehen – das muss der Prozess klären

Selbst für Menschen mit sozialem Gewissen wird Pistorius zum Sündenbock für das ganze Land. Die Anti-Gun-Lobby brandmarkt den Burensohn als Waffenfetischisten. Die Pro-Womens-Lobby fühlt sich an die 17-jährige Südafrikanerin Anene Booysen erinnert, die wenige Tage vor dem Valentinstag von einer Meute junger Männer vergewaltigt und ermordet wurde. Auch bei Reevas Tod handele es sich um einen Fall der allgegenwärtigen Gewalt gegen Frauen, klagt Lulu Xingwana, Ministerin für „Frauen, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen“, und fordert gemeinsam mit der Frauenliga des regierenden Afrikanischen Nationalkongresses, dass Pistorius hinter Gittern bleiben soll. Und wenn er Reeva nun doch aus Versehen erschossen hat? Oscars Version der Ereignisse in der Tatnacht sei schlüssig, antwortet Barry Bateman seiner Twitterschar, die ihn ein ums andere Mal nach seinem Urteil fragt: „Ich bin kein Richter. Lasst uns doch wenigstens das Verfahren abwarten.“

Der Prozess wird vor allem die Frage klären, ob der gefallene Held seine Geliebte absichtlich oder aus Versehen umgebracht hat – obwohl dieser Blickwinkel nicht zum Verständnis der eigentlichen Tragödie taugt. Denn ob Pistorius seine Freundin aus Furcht vor einer äußeren Gefahr oder aus Angst, sie im Streit zu verlieren, umgebracht hat: in jedem Fall fiel seine Reaktion vollkommen irrational und unverhältnismäßig aus – ein „pathologischer Zusammenbruch“, wie Psychologin Jutta van Dalsen formuliert. Zwischen extern aufgeblähter Allmacht und intern erlebter Ohnmacht zerrissen, hat der Held nicht halten können, was wir von unseren Idolen verlangen: Die Anklagebank müsste einmal um die Erde reichen, um alle für Reevas Tod Mitverantwortlichen aufnehmen zu können.