Oben im Wald hört Zeljko Pesek das Kreisen der Rotoren, überlegt sich, wie wohl der Hubschrauber zwischen den Bäumen landen kann, an die Wärmebildkamera denkt er nicht. Wo er genau liegt, weiß er nicht, die Uhrzeit dagegen hat er im Blick. Seine neue Armbanduhr gibt ihm Orientierung, er zählt die Stunden, die Minuten, schaut dem Zeiger zu. „Mein Talisman“, sagt er später über die Uhr, die ihm so wichtig wird. Viel dabei hat er nicht, seine Filzjacke, ein blau-weiß kariertes Hemd, die Hose, seinen rechten Schuh hat er verloren, vermutlich beim Sturz. Nicht nur der Fuß ist nass, die ganze Kleidung ist vom Regen durchweicht. „Manchmal habe ich es geschafft, dass das Zittern aufhört, dass ich wieder ruhig werde“, erzählt Pesek, „das waren die kleinen Glücksgefühle da draußen.“

 

Alle im Viertel reden über das Verschwinden von Herrn Pesek. Im Bioladen debattieren sie zwischen Gemüseregal und Kasse darüber, ob er wohl einen Herzinfarkt erlitten hat. Auf der Post sind sie sich einig, dass er in letzter Zeit nicht mehr so gut aussah. Und längst ziehen private Suchtrupps los, um den Vermissten aufzuspüren. „Jeder, der sich auf den Weg macht, ist hilfreich“, sagt mir Ursula Pesek am Telefon und klingt dabei unglaublich gefasst. Sie habe keine Ahnung, welchen Weg er an diesem Abend genommen habe, sagt sie. Sie hätten sich bei ihren Spaziergängen immer spontan für die jeweilige Route entschieden, mal zum Tierheim, mal hoch Richtung Wankheim, mal zum Bergfriedhof. Ich setze mich aufs Mountainbike und radle los auf den Schotterwegen. Wo das Unterholz besonders dicht ist, fahre ich im Schritttempo. Ein Reh rennt vor mir weg, ein Jogger auf mich zu. Die Dunkelheit treibt mich wieder nach Hause.

Drei Wände Noten, eine Glasfront, am Musizierzimmer im Erdgeschoss komme ich fast täglich vorbei. Manchmal grüße ich hinein, und es wird wieder herausgegrüßt. Herr Pesek gehört zu meiner Nachbarschaft wie der mächtige Kastanienbaum mit der Schaukel schräg gegenüber, er war einfach immer da, unvorstellbar, dass es nicht mehr so sein würde.

Sie pfeift mit seiner Flöte, nur die Vögel antworten

Zweimal hätte Ursula Pesek ihren Mann fast gefunden, sie verfehlte ihn nur um ein paar Meter. Mit dem Kopfstück der Querflöte ging sie die Pfade entlang, pfiff Töne in den Wald, doch nur die Vögel antworteten. Die Musik verbindet die beiden. Auch Ursula Pesek hat Musik studiert und unterrichtet, Zeljko Pesek spielte viele Jahre die Querflöte im Orchester der Deutschen Oper Duisburg. „Ich glaube, ich habe dich spielen hören“, sagt Zeljko Pesek, „ganz sicher bin ich mir nicht.“

Es sind die Rufe der Käuzchen in der Dämmerung, die Zeljko Pesek in der dritten Nacht Mut machen. „Ich hatte das Gefühl, ich bin nicht ganz allein, das tat gut“, erinnert er sich. „Da war so eine Zuversicht in mir.“ Er leckt Regenwasser von Blättern und saugt es aus seiner Filzjacke. Zu essen hat er nichts, er wird immer schwächer. Die rechte Seite schmerzt. Unter der Kleidung hat er Schürfwunden. Sein Blick schweift in den Himmel, er hat sich auf den Rücken gedreht. „Es war, als würde ich mein Lebensbuch offen halten, ich lag da wie ein Kind“, sagt er über die Stunden des Wartens.

„Tschüss“ hatte er ihr noch zugerufen, dann war er weg

Zeljko Peseks Spaziergang am 11. Mai wäre fast sein letzter geworden. Er liegt in einer Erdkuhle, keine halbe Stunde Fußmarsch von seinem Zuhause im Französischen Viertel entfernt. Ein Handy hat er nicht dabei. Seine Frau wartet auf ihn. Sie wollten vespern, sobald sie die Gartenarbeit erledigt hat und er zurück ist. Wie sie es schon oft gemacht haben. Nur dass er sich an diesem Abend um Viertel vor Sechs verabschiedet und nicht wieder kommt. Drei Nächte und dreieinhalb Tage lang hört Ursula Pesek nichts mehr von ihrem Mann. „Tschüss“ hatte er ihr noch zugerufen, dann war er weg.

„Warum habe ich ihn nur alleine gehen lassen?“, fragt sich die 67-Jährige und macht sich mit dem Fahrrad auf die Suche. Erst zwei Monate zuvor war ihr Mann, mit dem sie fast 50 Jahre zusammenlebt und drei Kinder groß gezogen hat, schon einmal im Wald gestürzt, er hat sich eine dicke Lippe geholt. Sein Schritt war unsicher geworden in letzter Zeit, sein Gang lang nicht mehr so entschieden wie früher, als sie die Gipfel der Alpen gemeinsam erklommen hatten. Vielleicht liegt es an der Lendenwirbelarthrose, vielleicht ist es Parkinson im Anfangsstadium oder gar Demenz. Ursula Pesek denkt über vieles nach und kommt ins Grübeln. Was sie weiß, ist, dass Bewegung ihrem Mann gut tut, es gibt kaum einen Tag, an dem sie nicht draußen sind.

Als Zeljko Pesek nicht zum Abendbrot erscheint, ist seiner Frau schnell klar: Es muss ihm etwas zugestoßen sein. Sie ruft noch am selben Abend die Polizei, und eine Suchaktion startet, wie sie Tübingen schon lange nicht mehr erlebt hat. Ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera überfliegt die ganze Nacht den Wald im Schindhau, mehr als 80 Rettungskräfte durchforsten mit 30 Hunden die Gegend. Die Polizei bittet mit Lautsprecherdurchsagen im Französischen Viertel die Anwohner um Hinweise. Die Familie druckt Plakate und hängt sie in der Nachbarschaft auf, in den Zeitungen und im Netz erscheinen Artikel über den Vermissten. „Die Polizei wollte sogar in unserem Schrank nachschauen“, sagt Ursula Pesek, „die dachten in jede Richtung.“ Gefunden haben sie jedoch nichts.

Seine neue Uhr ist die einzige Orientierung

Oben im Wald hört Zeljko Pesek das Kreisen der Rotoren, überlegt sich, wie wohl der Hubschrauber zwischen den Bäumen landen kann, an die Wärmebildkamera denkt er nicht. Wo er genau liegt, weiß er nicht, die Uhrzeit dagegen hat er im Blick. Seine neue Armbanduhr gibt ihm Orientierung, er zählt die Stunden, die Minuten, schaut dem Zeiger zu. „Mein Talisman“, sagt er später über die Uhr, die ihm so wichtig wird. Viel dabei hat er nicht, seine Filzjacke, ein blau-weiß kariertes Hemd, die Hose, seinen rechten Schuh hat er verloren, vermutlich beim Sturz. Nicht nur der Fuß ist nass, die ganze Kleidung ist vom Regen durchweicht. „Manchmal habe ich es geschafft, dass das Zittern aufhört, dass ich wieder ruhig werde“, erzählt Pesek, „das waren die kleinen Glücksgefühle da draußen.“

Alle im Viertel reden über das Verschwinden von Herrn Pesek. Im Bioladen debattieren sie zwischen Gemüseregal und Kasse darüber, ob er wohl einen Herzinfarkt erlitten hat. Auf der Post sind sie sich einig, dass er in letzter Zeit nicht mehr so gut aussah. Und längst ziehen private Suchtrupps los, um den Vermissten aufzuspüren. „Jeder, der sich auf den Weg macht, ist hilfreich“, sagt mir Ursula Pesek am Telefon und klingt dabei unglaublich gefasst. Sie habe keine Ahnung, welchen Weg er an diesem Abend genommen habe, sagt sie. Sie hätten sich bei ihren Spaziergängen immer spontan für die jeweilige Route entschieden, mal zum Tierheim, mal hoch Richtung Wankheim, mal zum Bergfriedhof. Ich setze mich aufs Mountainbike und radle los auf den Schotterwegen. Wo das Unterholz besonders dicht ist, fahre ich im Schritttempo. Ein Reh rennt vor mir weg, ein Jogger auf mich zu. Die Dunkelheit treibt mich wieder nach Hause.

Drei Wände Noten, eine Glasfront, am Musizierzimmer im Erdgeschoss komme ich fast täglich vorbei. Manchmal grüße ich hinein, und es wird wieder herausgegrüßt. Herr Pesek gehört zu meiner Nachbarschaft wie der mächtige Kastanienbaum mit der Schaukel schräg gegenüber, er war einfach immer da, unvorstellbar, dass es nicht mehr so sein würde.

Sie pfeift mit seiner Flöte, nur die Vögel antworten

Zweimal hätte Ursula Pesek ihren Mann fast gefunden, sie verfehlte ihn nur um ein paar Meter. Mit dem Kopfstück der Querflöte ging sie die Pfade entlang, pfiff Töne in den Wald, doch nur die Vögel antworteten. Die Musik verbindet die beiden. Auch Ursula Pesek hat Musik studiert und unterrichtet, Zeljko Pesek spielte viele Jahre die Querflöte im Orchester der Deutschen Oper Duisburg. „Ich glaube, ich habe dich spielen hören“, sagt Zeljko Pesek, „ganz sicher bin ich mir nicht.“

Es sind die Rufe der Käuzchen in der Dämmerung, die Zeljko Pesek in der dritten Nacht Mut machen. „Ich hatte das Gefühl, ich bin nicht ganz allein, das tat gut“, erinnert er sich. „Da war so eine Zuversicht in mir.“ Er leckt Regenwasser von Blättern und saugt es aus seiner Filzjacke. Zu essen hat er nichts, er wird immer schwächer. Die rechte Seite schmerzt. Unter der Kleidung hat er Schürfwunden. Sein Blick schweift in den Himmel, er hat sich auf den Rücken gedreht. „Es war, als würde ich mein Lebensbuch offen halten, ich lag da wie ein Kind“, sagt er über die Stunden des Wartens.

Er hofft noch immer, als viele andere ihn schon aufgegeben haben. Die Polizei, die am Freitagabend ohne konkrete Hinweise nicht länger nach ihm suchen will. Die Rettungshundestaffeln, die zweimal erfolglos ausgerückt sind. „Wir haben große Teile des Waldes abgesucht“, bestätigt mir eine der Ausbilderinnen am Telefon. Auf die Frage, welche Chance Herr Pesek noch hat, entdeckt zu werden, wird sie konkreter. „Unsere Hunde spüren die Vermissten nur dann auf, wenn sie noch leben. Tote finden sie nicht.“

Jede Stunde zählt

Es sind die nicht abgesuchten Flächen auf der Landkarte, die Ursula Pesek keine Ruhe lassen. Am Freitag bekommt sie von der Polizei den genauen Plan ausgehändigt, der zeigt, wo die Rettungstrupps bisher unterwegs waren. Sie konzentriert sich mit ihren beiden Söhnen, deren Freunden und den Nachbarn auf die weißen Flecken. Ganz systematisch gehen sie vor, mit Stöcken und Suchreihen, mit mehr Geduld und Ausdauer als die Polizei und als alle anderen. Auch am Samstag suchen sie weiter, erst ein schneller Frühstückskaffee bei Peseks in der Wohnung, dann hoch in den Wald, jede Stunde zählt, zu kalt sind die Nächte, zu schlecht die Prognosen.

„Ich habe geheult wie ein Schlosshund“, sagt Zeljko Pesek – und wieder steigen ihm Tränen in die Augen. Seine Wangen sind eingefallen, das fein geschnittene Gesicht wirkt noch schmaler als sonst. Er hat viele Kilo verloren im Wald, seine Frau wacht akribisch darüber, dass er keine Mahlzeit ausfallen lässt. Er sitzt in der Küche seiner Tübinger Wohnung und erzählt zum ersten Mal in aller Ausführlichkeit über sein Verschwinden. Ein Freund seines Sohnes hat ihn entdeckt, an einer leicht abschüssigen Stelle oben im Wald, am Samstagvormittag gegen 11 Uhr. „Sein Gesicht war über mir“, erinnert sich Pesek, er hat gesagt, jetzt ist alles gut.

Ganz sanft streicht Ursula Pesek ihrem Mann über die kurzen Haare, sie legt ihm die Hand auf die Schulter. „Du hast überlebt, weil du alles auf Null gestellt hast, wie bei einem Winterschlaf“, sagt sie. In der Woche im Krankenhaus war sie fast immer bei ihm, quetschte sich nachts zu ihm ins Bett, hielt ihm die Hand mit den Infusionsschläuchen, wenn er wieder eine Panikattacke hatte und sein Puls und sein Blutdruck sich überboten in Höchstwerten. Seit er wieder zuhause ist, ist er ruhiger. Seine Stimme kommt zurück, ganz langsam auch die Erinnerung. Vieles hat er vergessen, ganze Jahrzehnte liegen verschüttet, die Ärzte nennen das posttraumatische Belastungsstörung.

Das Gehen fällt ihm jeden Tag ein bisschen leichter

Im Zeitlupentempo steht der 79-Jährige auf, er legt die Hände auf die Knie, dann stemmt er sich hoch, er muss zur Toilette. Das Gehen fällt ihm jeden Tag ein bisschen leichter. Das Lachen auch, „ich bin einer, der fröhlich in die Welt guckt“, sagt Zeljko Pesek und verschwindet in kleinen Schritten um die Ecke.

„Es war ein Glück, dass er gefunden wurde“, sagt die Polizeisprecherin. Der Hubschrauber mit der Wärmebildkamera habe vermutlich wegen des dicken Blätterdachs Probleme bei der Ortung gehabt. Und die Rettungsstaffeln hätten eben nicht überall suchen können.

Zeljko Pesek will, sobald er wieder fitter ist, hoch in den Wald. Er will sich das genau anschauen, wo die Käuzchen seine einzige Gesellschaft und sein Trost waren. Er will seiner Frau die Stelle zeigen, wo er dreieinhalb Tage überlebt hat. „Kommen Sie wieder“, sagt er zum Abschied und drückt mir die Hand. „Kommen Sie bitte auch wieder“, denke ich mir, „kommen Sie bitte immer wieder.“