Es war still geworden um Hans-Dietrich Genscher. Jetzt kämpft er in der Partei um Europa, sein Lebenswerk.

Wachtberg - Wer sich mit Hans-Dietrich Genscher um elf Uhr verabredet hat, der muss sich nicht wundern, wenn das Gespräch mit ihm in Gedanken schon morgens um fünf beginnt. Man rafft sich auf, prüft still die Fragen, die zu stellen sind, eine Generalprobe ist das, die Zeit ist knapp, und so vieles wäre zu klären.

 

Im Herbst ist es finster um diese Zeit, umso heller und klarer sind die Erinnerungen. Es ist, als besuchte man ein lebendes Geschichtsbuch, man will blättern zu den Stellen, die Kindheit und Jugend prägten. Bilder scheinen auf wie flüchtige, wiederkehrende Gäste. Ein ausgebrannter Hubschrauber – Geiselnahme bei der Olympiade in München 1972, da war Genscher Innenminister. Das grobkörnige Bild einer Boeing 737 im Wüstensand – Entführung der Landshut 1977, da war Genscher schon Außenminister. Man findet sich im Jahr 1989 wieder auf dem Balkon der Prager Botschaft, hört Genscher näseln: „Wir sind zu Ihnen gekommen, Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . .“

Das Gespräch wird sich aber nicht im Gestern verlieren. Es soll den Nebel lichten, die Frage beantworten, warum Genscher in seiner Partei mitmischt wie in seinen besten Tagen. Ob er sich, wie so viele, schlicht für unentbehrlich hält, oder ob es ihm um mehr geht, um eben dieses Lebenswerk, das in der Einheit Deutschlands und Europas mündete. Der 85-Jährige dirigiert aus einem Ohrensessel im beschaulichen Wachtberg bei Bonn heraus seine Partei, souffliert Guido Westerwelle die Europapolitik. Es gibt viele in der FDP, die sagen, Westerwelle sei als Parteichef erst am Ende gewesen, als Genscher ihm zwischenzeitlich seine schützende Hand entzog. Philipp Rösler, Christian Lindner und Daniel Bahr holten sich bei ihm zu Hause seinen Segen, als es darum ging, Westerwelle zu stürzen. Jetzt hat Rösler nach allem, was man hört, Genschers Gunst und damit womöglich auch seine Zukunft in der FDP verspielt. Warum?

Genscher ist 20 Jahre nach seinem freiwilligen Rücktritt als Außenminister nicht gewählt, höchstens erwählt. Es gibt einige in der Partei, denen geht er deshalb zu weit. Aber keiner traut sich, das offen zu sagen. Es sei schon kurios, sagt einer, der die Partei kennt wie kaum ein anderer. Ausgerechnet die FDP, eine liberale Partei, habe aus ihrer Mitte heraus „eine Majestät geformt“. Gestandenen Parteimitgliedern gingen die Worte durcheinander, wenn Genscher auf sie zugehe. Seine vagen Artikel und selten eindeutigen Interviews deuten die FDP-Granden wie Schüler die Werke großer Meister. Sie fragen: Was will er, den manche in der Partei wegen seiner großen Horchorgane das Ohrenorakel nennen, uns sagen? Geht sein Daumen hoch, geht er runter?

Sicher ist: ihm geht es gut.

Seine Majestät residieren in einem flachen, keineswegs protzigen Anwesen mit tiefgrauem Schieferdach. Viele Häuser in dieser Straße sehen aus, als würde dort jeden Moment Oberinspektor Derrick seinen Kollegen Harry Klein den Wagen vorfahren lassen. Die alte BRD, die Genscher mit der Einheit zu überwinden half, lebt hier noch fort, und schlüge es acht, man würde sich nicht wundern, wenn Karl-Heinz Köpke  in der „Tagesschau“ die Nachricht des Tages einleiten würde mit dem Wort „Bonn“.

Der König der FDP

Der König empfängt mit munterer Miene, neugierig und hellwach. Dunkelbraune Cordhose, gestreiftes Hemd, Pullover. Dresscode: „casual“, wie die Diplomaten sagen würden. Nichts an diesem freundlichen Mann erzwingt Distanz – kein Stück Stoff, keine Geste, kein Blick. Nichts in diesen gediegen eingerichteten Räumen erzwingt Respekt. Hier finden sich keine Insignien der Macht, keine Zepter und erst recht keine Krone, dafür viele Bilder an den Wänden und Kupferstiche seiner Heimatstadt: Halle am Morgen, Halle am Mittag, Halle am Abend. Ein Fernseh-Bambi für sein Lebenswerk reckt einem im Treppenhaus sein vergoldetes Bronzeköpfchen entgegen und hindert ein paar Bücher daran umzukippen. Einschlägige Karikaturen mit riesigen Elefantenohren gestalten den Besuch der Gästetoilette unterhaltsam. Wäre Genscher blind vor Selbstsucht und Eitelkeit, zerfressen vom Gefühl, alles besser zu können, die Tarnung wäre perfekt.

Genscher zählt zu den wenigen Spitzenpolitikern, die ihren Machtanspruch nur bei Bedarf entfalten. Er unterliegt nicht wie  mancher Aufsteiger Gerhard-Schröder’scher Prägung dem Zwang, rund um die Uhr und noch im Fahrstuhl anderen klarmachen zu müssen, wer Ober und wer Unter ist. Dieser große Liberale lässt einen im Gespräch recht nah an sich herankommen – präzise auf seine Schlagdistanz.

Zu Rösler fällt ihm wenig ein – zu wenig

Warum also mischt er sich noch immer ein? Warum ist die Rente mit 85 für ihn keine reizvolle Perspektive? In der FDP sagen sie, der Kampf um sein Lebenswerk, die Einigung Deutschlands und Europas, halte ihn jung wie andere seines Alters das Lösen von Kreuzworträtseln. Und was sagt er selbst? Er sieht seinem etwa halb so alten Gegenüber mit dem Blick des Prüfenden in die Augen. „Trinken Sie ein Mineralwasser mit mir?“, fragt er.

Dann erzählt er Geschichten vom Krieg.

Stalin und Genscher hatten Stubendienst. Stalin, so nannten sie beim Reichsarbeitsdienst einen jungen, schweigsamen Mann. Wegen seines Bürstenhaarschnitts. „Ich fand ihn sehr sympathisch“, erinnert sich Genscher. Man schrieb das Jahr 1944, es war November, und das Dritte Reich taumelte seinem Untergang entgegen. Bei Tisch erzählte ein Dritter, dass sein Vater sich als Soldat der Wehrmacht habe einziehen lassen. „Jetzt noch?“, fragte Genscher, „ganz schön dumm.“ Es sei nicht so, wie Genscher denke, antwortete der Mann. Der Vater sei Rechtsanwalt und wolle nicht am Volksgerichtshof arbeiten, diesem Blutgericht. Lieber habe er sich einziehen lassen. „Dann ziehe ich vor ihm meinen Hut“, will Genscher erwidert haben.

Stalin habe das Gespräch verfolgt, fasste Vertrauen. Später, als sie das Geschirr in die Küche brachten, habe er deshalb sein Schweigen gebrochen und sich als Kommunist offenbart. In der DDR wurde Stalin Mitglied des SED-Politbüros, Genscher als FDP-Mann erst Innen-, dann Außenminister. Im März 1990, kurz nach der Wende, ist jener, den sie Stalin nannten, gestorben. Genscher sagt, er hätte sich gern noch einmal mit ihm unterhalten. Ob denn der Respekt voreinander geblieben sei, obwohl die beiden politisch nach dem Krieg in entgegengesetzte Himmelsrichtungen losmarschiert waren? „Ja, natürlich!“, antwortet Genscher. Was für eine Frage.

Die Tragik der Nachkriegsgeneration

„Wir sind Suchende“, sagt Genscher. Er spricht von der Generation skeptischer junger Menschen, denen der Krieg Narben in die Seele geschlagen hat. Man war sich einig, dagegen zu sein. Gegen den Krieg, gegen den Wahnsinn des nationalsozialistischen Terrors, gegen den Irrwitz der Rassenlehre. „Wir waren dagegen, und fortan suchten wir etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.“ 1952 wechselte er von Halle an der Saale über Westberlin in den Westen. In jenem Land, in dem er wählen konnte, hatte er das Gefühl, keine Wahl mehr zu haben. Er musste sich in die Politik einmischen, es ging nicht anders. Die deutsche Einheit wurde seine Mission, das geeinte Europa seine Hoffnung. Einer wie er kann nicht einfach aufhören. Für Suchende wie ihn ist die Wahrheit bestenfalls ein sich ständig fortentwickelnder Gedanke, dem man auf der Spur bleiben muss. Ein Leben lang.

Nun ist es so, dass Suchende seines Alters gemeinhin sehr genau zu wissen glauben, in welcher Richtung sie fündig werden. Und dorthin drängt er seine Partei mit aller ihm verbliebenen Macht. Er befürchtet tatsächlich, dass mit der FDP unter der Führung Röslers die europäische Einigung verhandelbar werden könnte. „Der Europakurs der FDP hat mich irritiert“, sagt Genscher. Er kann nicht akzeptieren, dass ein Austritt Griechenlands für Rösler seinen Schrecken verloren hat. „Wir Alten“, sagt Genscher, „wollten mit der europäischen Einigung Antworten auf die Geschichte geben und haben dabei, ohne es zu wissen, Antworten auf die Globalisierung gegeben.“ Soll ja keiner wagen, das Erbe der Suchenden aufs Spiel zu setzen.

Länger als er war keiner Minister in Deutschland

Rösler, so sagen sie in der FDP, ist für ihn ein Verlierer, ein junger Mann, unter dessen Führung die Existenz der Partei auf dem Spiel stehe. Genscher greift Rösler im Gespräch nicht an. Er ignoriert ihn, das ist schlimmer. Stattdessen preist er den jungen NRW-Chef Christian Lindner als „Politiker neuen Typs“, der von „großer Nachdenklichkeit“ geprägt sei. Fraktionschef Rainer Brüderle sei „unglaublich wichtig“, ein erfahrener Mann, der „Partei und Fraktion zusammenhalte“. Wolfgang Kubicki nennt er einen erfrischenden Quertreiber, der mit Konventionen breche und „auch mal das Maul aufreiße“. Rösler beschreibt Genscher dagegen erst auf Nachfrage. „Er ist Parteivorsitzender“, antwortet Genscher knapp. Das ist nicht die Beschreibung einer Hoffnung, sondern eines Zustands.

Genscher steht nun mal lieber auf der Seite der Gewinner, länger als er war keiner Minister in Deutschland. „Er will sich nie erwischen lassen“, sagt ein Weggefährte. „Er ist ein Chamäleon“, sagt ein anderer. Wie es scheint, probt das Chamäleon gerade wieder den Farbwechsel.

Draußen auf der Terrasse pickt sich ein leistungsbereiter Spatz winterdick, drinnen entwirft Hans-Dietrich Genscher mit allem, was er über die gebotene Neuausrichtung der FDP sagt, zugleich einen Bauplan für eine Ampelschaltung, sollte es für Schwarz-Gelb nicht mehr reichen. Er mahnt seine Partei, in der Wirtschaftspolitik Weimar nicht zu vergessen: „Soziale Mindeststandards müssen gewahrt bleiben, sonst ist die Demokratie gefährdet.“ Die Umweltpolitik beschreibt er als „Überlebensthema der Menschheit“. Peer Steinbrück, den Kanzlerkandidaten der SPD, lässt Genscher in mildem Glanz erstrahlen. Mit Altkanzler Helmut Schmidt, der ihm einst erst Partner und später dann Widersacher war, sei er sich in Europafragen im Grunde einig. So geht das viele Minuten lang. Und wie immer will Genscher mit all dem nichts gesagt haben. Am 1. November spricht er über die Zukunft Europas – im Willy-Brandt-Haus. Auch das soll nichts heißen. Klar.

Am Ende lächelt der kluge Mann. „Auf Wiedersehen“, sagt er. „Und hau’n Sie mich nicht in die Pfanne.“

Wie soll das gehen? Er hat doch nichts gesagt. Oder?