Der pensionierte Lehrer Hermann Glatzle sucht seit Jahren nach unentdeckten Menschenhöhlen im Lonetal. Die Landesarchäologen vertrauen seinem Spürsinn. Ihm nach!

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Hürben - Sanft, wie durch eine Milchglasscheibe, fällt das frühe Wintersonnenlicht auf den Grund des Lonetals. Kalkriesen, die aussehen wie mit zu nasser Tusche gemalt, sind in Wahrheit die Schutzmauern verwunschener Schlösser. Allmählich nur hebt sich der dunstige Schleier. Eine Stunde für Märchengläubige. Oder für Poeten wie Friedrich Hölderlin. „Wahrlich! Ein Gott, ein Gott, hat dieses Gebirge geschaffen“, pries der Maulbronner Klosterschüler seine Alb.

 

Hermann Glatzle hat es gern weniger überschwänglich. Im Nähmaschinenschritt eilt er voran, führt dahin, wo der liebe Gott morsche, mit nassem Moos überzogene Baumstämme ausgelegt hat. Wo mit Laub getarnte Geröllfelder, gefährlich wie blankes Eis, die Anstiege überziehen. Wo Dornbüsche in reicher Zahl die sündteure Membrankleidung moderner Wanderstrümpfe aufschlitzen. Wahrlich, hier sollten Zaudernde nicht schreiten.

Kaum ein Flecken im 32 Kilometer langen Lonetal, den Hermann Glatzle in den knapp 20 Jahren eines spät gewählten Forscherlebens nicht unter seine Sohlen genommen hat. Mit offenen Augen und einem Understatement auf   der Zunge, das lästige Gespräche verknappt. An der Vogelherdhöhle, dem Fundort einiger der ältesten Eiszeitkunst-Figuren der Menschheit, begegnet ihm eine Jungforscherin der Universität Tübingen. Sie stellt Glatzle ihren Begleitern als wichtigen Hobbyforscher vor. Er antwortet: „Ich bin nur ein pensionierter Beamter, der zu viel Zeit hat.“

Alle das Tal begrenzenden Hänge ist Glatzle in den Jahren abgegangen, streng systematisch, „einmal obenrum, einmal im unteren Drittel“. Wenn der Boden hart ist vom Frost und die kahle Vegetation neue Blickachsen öffnet, ist er unterwegs. Er sucht Höhlen, Spalten, Öffnungen im Fels, und wenn Schnee liegt, heftet er sich an die Spuren von Dachs und Fuchs. Die Vogelherdhöhle ist wohlgemerkt entdeckt worden, weil dem Heidenheimer Reichsbahn-Obersekretär Hermann Mohn an einem Maisonntag im Jahr 1931 im Auswurf eines Dachsbaus steinzeitliche Werkzeuge auffielen.

Seine Fächer waren Biologie und Sport

Von 1971 bis 2007 arbeitete Glatzle als Leiter des Buigen-Gymnasiums in Herbrechtingen. Seine Fächer waren, als wäre sein ganzes Berufsleben eine Vorbereitung auf die Entdeckung der verborgenen Geheimnisse des Lonetals gewesen, Biologie und Sport. Was der Sucher in fast 20 Jahren fertiggebracht hat, ist eine weitere Lebensleistung. „Ich würde meinen, dass ich 80 bis 90 Prozent aller Löcher gefunden habe.“ In seiner wissenschaftlich geführten, in gut 2000 Arbeitsstunden aufgebauten Computerdatei sind 212 „Stellen“ kartiert mit Kurzbeschreibungen, Fotos, Zeichnungen und GPS-Koordinaten. Gemeint sind Löcher ab Fuchsbaugröße oder auffällige Felsformationen. Das Erbe ist gesichert. Seit dem vergangenen Jahr besitzt der Archäologe Claus-Joachim Kind vom Landesamt für Denkmalpflege alle nötigen Datenkopien. Auf 50 „nachprüfenswerte“ Orte hat Glatzle die archäologische Fachwelt aufmerksam gemacht.

Einer davon taucht am oberen Rand des von Steilhängen gerahmten, sanft ansteigenden Tiefentals auf. Vor rund 40 000 Jahren müsse dieses Seitental ein guter Weg für Tierherden gewesen sein, um zum Trinken an die damals mächtig strömende Lone zu gelangen, glaubt der Freizeitforscher. „Als Mammut würde ich einen schönen, bequemen Weg bevorzugen.“ Im oberen Wegteil fällt ein Überhang auf, von den Archäologen Abri genannt. Weitere vorgelagerte Felsen bieten gute Versteckmöglichkeiten. Die Jahrtausende haben eine dicke Sedimentschicht aufgetürmt. Könnte der Abri eine verschüttete Resthöhle sein?

„Ich glaube nicht, dass das ein Wohnplatz war“, sagt Glatzle. Aber einen „Jagdplatz“, genutzt von fünf- bis sechsköpfigen Gruppen mit Speeren und Steinäxten, hält er für wahrscheinlich. Er erinnert sich an seinen ersten Gang hier. Im Schutz des Felsens stand ein landwirtschaftlicher Hänger. „Da dachte ich, wenn ein Bauer hier einen Wagen abstellt, dann muss ja eine Schutzfunktion da sein.“ Das glauben mittlerweile auch die Experten vom Esslinger Landesamt. Sie haben im vergangenen Jahr, dem Instinkt des Tourengehers Glatzle folgend, vor Ort eine wissenschaftliche Grabungsstelle eingerichtet.

Die Lust, sich beeindrucken zu lassen

Er gräbt nicht mit. „Ich bin niemand, der in Höhlen kriecht, sondern die Eingänge aufspürt.“ Seinen schnellen Beinen vertraut er mehr als den Händen, die er zur Langsamkeit zwingen müsste. Seine sanftblauen Augen kann er bis heute, er ist in seinem 72. Lebensjahr, ohne Brille scharf stellen. Sie erfassen an einem Waldsaum erste Märzenbecher, die ihre Blüten zur Sonne recken. Er geht darauf zu, bewundert – nun doch in Hölderlin-Art – die Pracht. Er habe auf seinen Wegen nie gearbeitet, sagt Glatzle, sondern sich gespürt und andauerndem Staunen hingegeben. In seinen Worten klingt das so: „Es ist die Neugierde. Aber nicht die Neugierde der Dorffrauen, sondern die Lust, mich beeindrucken zu lassen.“

Weiter mit dem Auto zum Ende des Lonetals, dann ein Stück über eine offene Wiese, ein Satz über einen Trockengraben und hinauf zu einem weiteren Felsüberhang. Wieder Südlage, vor dem Fels ein „Balkon“. Auch Eiszeitjäger hatten es gern hell, hoch und sonnig. Hier wird die Universität Tübingen auf Hinweis des Ex-Pädagogen ebenfalls bald mit einer Grabungskampagne beginnen. Vor 40 000 Jahren lag die Talaue sechs bis sieben Meter tiefer, dieser Ort wäre ein idealer Beobachtungs- und Lagerplatz gewesen, glaubt Glatzle.

Er beugt sich zu einem Stein, der wie eine Pfeilspitze aussieht, wirft ihn nach einer Blitzprüfung wieder fort. Ihn fasziniere, murmelt er dabei, wie in der Eiszeit „relativ wenige Personen so effektiv waren“. Ein Einzelner hätte „keine lange Überlebenschance gehabt“.

Es gab Enttäuschungen. Eine ist die Fetzerhaldenhöhle, unweit der bekannten Bocksteinhöhle gelegen. In alten Aufzeichnungen wird sie als „Teufelsküche“ bezeichnet. Die Lage war strategisch gefällig, die Archäologen gruben mit Elan, die interessierte Fachwelt freute sich schon auf die sensationelle Bestätigung, dass die nächste Menschenhöhle auf der Alb gefunden wäre. Aber außer ein paar Steinabschlägen und angenagten Tierknochen fand sich am Ende nichts. „Nur ein Hyänenhorst“, konstatiert Glatzle. Der Fehlschlag war komplett, als dort auch noch ein Lokaljournalist abstürzte und sich schwer verletzte.

Glatzle im Hürbetal

Weiterfahrt ins Dorf Hürben, am Ortsrand der Aufstieg zu einer Höhlung mit Doppeleingang, die Glatzle Zwieselhöhle getauft hat. Durch die Eingänge hätte sich in Vorzeiten wohl ein veritabler Höhlenbär drücken können. Der Biologe haut zielsicher seine Wanderstöcke zwischen die Geröllbrocken, klettert ohne sichtbare Anstrengung aufwärts. Immer noch Volleyballtraining, zweimal pro Woche.

Von wegen, Glatzle kriecht nicht in Höhlen. Er geht auf alle Viere und verschwindet im Dunkel. Für einen Moment sieht er selber aus wie das vom Aussterben bedrohte Exemplar eines letzten echten Abenteurers im südwestdeutschen Zivilisationshabitat. Ein paar Meter weiter im Berginnern setzt er sich mit dreckigen Hosen auf einen Stein und blinzelt zufrieden zurück ins Licht. Den Forschern vom Amt hat er empfohlen, auch hier im Hürbetal einmal mit Grabungsbesteck vorbeizugucken.

Die nächste große Entdeckung auf der Alb, glaubt Glatzle, ist nur eine Frage der Zeit. Sein Material liefert Wissenschaftlern Ansätze für Jahre. Wer weiß, vielleicht gibt es eines Tages eine Glatzle-Höhle? Ihm ist’s egal. „Ich weiß, dass Ruhm nichts als Schall und Rauch ist.“ Das klingt, als meine er diesmal, was er sagt.