In den 60er Jahren war er der Wegbereiter des Karate in Deutschland. Heute ist Albrecht Pflüger pensionierter Hauptschullehrer und ein international bekannter Großmeister.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Leonberg - Und wie ist das mit diesen Nervenpunkttechniken?“ – „Also gut, greifen Sie mich einfach mal an“, sagt Albrecht Pflüger. Ein trockener, beiläufiger Abwehrschlag, schon ist er mit seinen Daumen an einer Stelle unterhalb der Ohrläppchen – etwa da, wo die Lymphknoten sitzen. Es folgt ein satter, noch eine ganze Weile nachklingender Schmerz. Er lässt ahnen, wie weh Pflüger einem tun kann, wenn er nicht nur halbherzig, sondern gleich „voll ins Hirn“ drückt, wie er sagt.

 

Auch sehr angreifbar und empfindlich: die Halsgrube am Anfangsstück der Luftröhre zwischen Brustbein und Kehlkopf. Eine gezielte Attacke mit dem gekrümmten Zeigefinger lähmt dem Gegner die Arme. Oder Würgegriffe: sie verursachen wahlweise einen Brechreflex, Erstickungsanfälle oder Ohnmacht. Die allerletzte Lösung: ein Handkantenstreich gegen den Hals, nicht punktuell und peitschenartig, sondern als lang gezogener Schneidehieb, der die Schlagader auftrennt wie eine Schwertklinge. Ikken Hissatsu, die Kunst des Tötens mit einer einzigen Aktion, war auch Teil des ursprünglichen Karates.

Albrecht Pflüger gibt eine kleine Vorstellung neben dem Wohnzimmer-Kachelofen. Im Bücheregal stehen ein paar Modellautos. Auf der Terrasse leckt sich Kätzchen Baghi den Bauch. Wenige Schritte von dem Reihenhäuschen entfernt ist die Leonberger Lämmle-Hauptschule, wo Pflüger ein ganzes Beamtenleben lang Lehrer war. Er wird 75, hat drei Töchter und zehn Enkel. Urlaube verbringt er am liebsten im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb. Sein Hobby ist Fotografieren, früher machte er auch Standard-Tanz. „Ob ich ein guter Tänzer war?“, ruft er seiner Frau in der Küche zu. „Jaja, damals im Mai.“

Der Rücken macht ihm nach einer OP noch zu schaffen. Große Wandertouren sind gerade nicht drin, aber zackige Kagi-Zukis oder Fumi-Komis gehen immer. Pflüger ist Großmeister der Kriegskunst. Er hat den 8. Dan in Karate, trägt den 2. Meistergrad in Jiu-Jutsu und den Schwarzgurt in Aikido, was seinen Kampfstil runder und geschmeidiger machen sollte. Pflüger zählt zu den Karate-Urvätern in Deutschland.

Kamae wa shoshinsha ni ato wa shizentai – Beim Einsteiger gibt es feste Stellungen, später den natürlichen Zustand

Drei Mal wöchentlich steht er in Leonberger Sporthallen und trainiert die Karate-Oberstufe. Sein alter Schwarzgurt ist so abgerieben, dass er sich längst in einen weißen verwandelt hat. In Reihe aufstellen. Stille. Gruß. Dann die ersten Empi-Uchis – „Faust an die Hüfte, Ellbogen scharf nach oben schwingen“ – und Mae-Geris – „die Schnappbewegung des Knies nutzen, mit dem Fußballen ans Kinn wie ein Uppercut.“ In den 70er-Jahren spülte Bruce Lee, der Hollywood-Mann mit der Todeskralle, die Leute nur so in die Karateabteilung des TSG 1849 Leonberg. Mehr als 300 Aktive hatte der Verein damals, heute sind es gerade mal ein Viertel. Aber Pflüger macht deswegen keine halbe Sachen. Kein amputiertes Karate. Wer bei ihm lernt, der muss sich auf den Weg machen wollen.

Tsune ni shinen kufu seyo – Denke immer nach und versuche dich stets an Neuem

Als zwölfjähriger Bub findet Pflüger im Bücherschrank seines Vaters etwas über Jiu-Jutsu, übt die Griffe mit seinen Klassenkameraden. Später besorgt er sich Karate-Literatur, diese Kampfkunst fesselt ihn besonders. Er bringt es sich selbst bei – mit wem soll er auch schon groß trainieren? Karate gibt es im Grunde nicht in Deutschland. Nur Jürgen Seydel. Der erwartet den jungen Pflüger 1962 am Bahnhof von Bad Homburg. Mit dem Moped fahren sie zu einem Gymnasium, wo Seydel ihm dann, auf dem Schulflur, die Prüfung zum Orangegurt abnimmt. Der Anfang ist gemacht.

Seydel bleibt noch drei Jahre der einzige Schwarzgurt in Deutschland. Dann geben japanische Großmeister einen Lehrgang in Bad Godesberg. Einer von ihnen: Keinosuke Enoeda, „der Tiger“. Weltweit bekannt für seine Coolness, um nicht zu sagen Kaltblütigkeit, und seine unglaubliche Kondition. Sein Karate gilt als das härteste überhaupt. Es wird eine unvergessliche Woche für die Prüflinge. Sechs Stunden täglich ein gnadenloses Pensum. Wer 1000 Gyaku-Zukis hintereinander macht, so Enoedas Überzeugung, wird vielleicht drei, vier perfekt hinbekommen. Die muss er sich einprägen. Der Rest ist Qual. Am Ende schaffen vier der 36 Braungurte den 1. Dan. Pflüger gehört dazu.

Karate wa gi no tasuke

Karate wa gi no tasuke – Karate ist ein Helfer der Gerechtigkeit

Karate entwickelt sich auf den Ryukyu-Inseln im ostchinesischen Meer, vor Jahrhunderten ein eigenes Königreich, heute ein Teil Japans. Durch den Handel gelangen chinesische Kampftechniken auf die Inselkette, wo sie sich mit einheimischen Stilen vermischen. Anfang des 20. Jahrhunderts erreicht Karate Japan, verbreitet sich von dort aus über die ganze Welt.

Dabei richtet sich Karate anfangs gegen Japaner. Im 17. Jahrhundert erobert der berüchtigte Shimazu-Clan die Inseln und verhängt ein drastisches Waffenverbot. Das geht so weit, dass sich ganze Dörfer ein Küchenmesser teilen müssen. Um sich gegen den Terror und die Willkür der Besatzer zu wehren, bleibt den Einwohnern nur Karate, „die leere Hand“. Bald beherrschen sie den Kampfstil in Vollendung. Nur Auserwählte dürfen ihn, im Geheimen, lernen. Die einzelnen Techniken werden in Katas festgehalten und über Generationen weitergegeben. In ihnen bündeln die Meister ihr Wissen, chiffrieren Abläufe, Bewegungen, Formen in einer Art Tanz. Etwa 70 Katas gibt es bis heute. Sie sind immer noch Inspirationsquelle für Meister, die sie auf ihre Art decodieren und wiedererwecken.

Hito no te ashi wo ken to omoe – Stelle dir deine Hand, deinen Fuß als Schwert vor

Pflügers Rentnerbauch ist immer noch so hart wie ein Bronze-Torso. Aber der Schlüssel zur Karatekunst liegt im Bauch – etwa fünf Zentimeter unter dem Nabel. Wer in der Körpermitte ruht, hat das ideale Gespür für Gefahr. Von der Körpermitte aus kann er jede Aktion so setzen, dass sich nirgendwo Energie verliert, sondern die ganze Kraft ins Ziel geht – hart, schnell, präzise. „Es muss ein Schock für den Körper sein. Wie ein Blitzeinschlag.“

Wer in seiner Mitte ist, hat Kontrolle über die Atmung. Der kann wie eine Katze aus der totalen Entspannung in den maximalen Angriff und dann gleich wieder in die totale Entspannung gehen. Jeder einzelne Muskel muss in Abertausenden Übungsstunden gelernt haben, wann es gerade auf ihn ankommt und bei welchen Aktionen er sich ganz raushalten kann.

Beim Karate gibt es keinen Moment des Abwartens. „Wären beide Kämpfer mit 10 000 Volt geladen, muss die Attacke kommen, wenn es zu knistern beginnt, ohne einen Sekundenbruchteil Verzögerung“, sagt Pflüger. Der Angreifer sollte sogar das letzte Stückchen in den Hochspannungskreis mit dem Angriff selbst überbrücken.

Was das Feuerschweißen für japanische Langschwerter, ist das Makiwara für Hände und Füße. Ein ursprünglich mit Reisstroh umwickeltes, fest im Boden verankertes und oben leicht nachfederndes Brett, das die Technik schult, und, wenn man oft genug dagegen schlägt, die Gliedmaßen dermaßen abhärtet, dass sie per se zu Waffen werden. Meister Pflüger hat schon herumfliegende Dachpfannen mit der Hand entzweit, auch wenn er solche Showeinlagen nicht sehr pflegt. Meister Kwon-Jae-Hwa zertrümmerte mal einen faustgroßen Kieselstein mit der Innenhandkante. Meister Oyama Masutatsu, ein echter Haudrauf, schlug gern Stieren sauber die Hörner ab, brach ihnen danach das Genick. Mit seinen Schülern sprang er auch nicht viel zimperlicher um.

Mazu jiko o shire shikoshite hoka o shire

Mazu jiko o shire shikoshite hoka o shire – Erkenne erst dich, dann den Anderen

Früher sei er jähzorniger und unduldsamer gewesen, sagt Albrecht Pflüger. Im Verständnis der alten Meister bedeutet Karate vor allem, als Persönlichkeit zu wachsen. Das Ego zu besiegen, weil es sich von Natur aus immer wieder in den Vordergrund drängen will. Dieses Denken habe im modernen Sportkarate, wo allein Triumphe und Trophäen zählen, keinen Platz mehr. Der Kern des Ganzen fehlt. „Das mag in unsere Erfolgsgesellschaft passen. Einer inneren Reifung steht es aber im Weg.“

Viele, die nach jahrelanger Anstrengung ihren Schwarzgurt geschafft haben, ruhen sich dann aus, schauen zurück, werden faul und überheblich. Also Endstation. Dabei seien sie erst, wenn sie die Basistechniken beherrschen, wirklich bereit und frei, sagt Pflüger. „Karate hört nie auf.“ Nach jeder Stufe öffne sich wieder ein neues Zimmer. „Den 10. Dan kann eigentlich niemand zu Lebzeiten bekommen“, sagt der Großmeister Leslie Safar (9. Dan), „denn er bedeutet, dass man perfekt ist. Wer den 10. Dan lebend erreicht, ist muss geistig tot sein.“

Gijutsu yori shinjutsu – Die Kunst des Geistes kommt vor der Kunst der Technik

Für die praktische Prüfung zum 8. Dan, die er mit 70 Jahren ablegte, hat Pflüger die Kata „Hakkaku“, der weiße Kranich, interpretiert. Jetzt kämpft er im Wohnzimmer mit der Fernbedienung des DVD-Player, um zu zeigen, wie der japanische Meister Teruo Hayashi sie ausführt. Die Kata dauert kaum länger als eine Minute. Sie hat etwas von einem Stammestanz. Der Meister deutet die Schwingen eines Kranichs an – im Kampf eine Abwehrtechnik. Er formt seine Hand, wie im Schattenspiel, zu einem Vogelkopf – im Ernstfall eine sehr effektive Art, jemanden zu verletzen. Hypnotische Bewegungen variieren mit rasanten Stößen, immer den gedachten Gegner vor Augen. Dagegen wirkt jedes reale Karateduell plump und ordinär. Ohne Poesie.

„In Katas liegt Demut und Ernsthaftigkeit und tiefe Schönheit“, sagt Pflüger. Was ein Meister aus den Techniken macht, folgt bei der Dan-Prüfung in einer Vorführung mit Kampfpartner. Für Eingeweihte wie die Lesart einer Heiligen Schrift. Es heißt, man brauche Jahre, um eine Kata ansatzweise zu verstehen. Es heißt, manche Meister übten ihr Leben lang nur eine Kata. Es heißt, eine einzige Kata trage das Wissen mehrerer Meister in sich. „Gojshiho dai“ etwa, eine Kata der höchsten Meisterstufe. Oder „Jitte“: wer sie vollendet beherrscht, kämpft mit der Stärke von zehn Händen.

Katas sind zwar noch fester Bestandteil im Sportkarate und zwingend bei jeder Prüfung. Dennoch gingen sie schleichend verloren, sagt Pflüger. Denn viele spulten diese altüberlieferten Schattenkämpfe nur noch als Pflichtprogramm ab, ohne Gespür für ihre Bedeutung. Als sage man ein auswendig gelerntes Gedicht in einer fremden Sprache auf. Seelenlos. „Manche treten 20 Jahre vor sich hin, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich Ausschau halten.“

„Nur ein ruhiger Geist bringt kluge Bewegungen und körperliche Stabilität hervor“, sagte einmal Meister Yasunari Ishim, Träger des 9. Dan. „Für Karate brauche ich einen leeren Geist und innere Klarheit. Das Leben ist sehr einfach, nur neigen wir Menschen dazu, es kompliziert zu machen.“