Hier ein altes Abenteuer von Miss Marple, da das brandneue Abenteuer eines amerikanischen Mietschnüfflers: so standen sie nebeneinander, als der Krimi noch in die Schmuddelecke verbannt war. Mit der Sichtbarkeit der Klassiker ist es nun vorbei.

Stuttgart - Ist das nachträgliche Verklärung? Oder war der Krimimarkt in Deutschland früher nicht nur kleiner, sondern ganz anders strukturiert, nämlich fast vorbildlich zeitlos? Das Gedächtnis stellt es jedenfalls so dar, dass der Markt noch nicht hektisch nach vorne floh, zum neuesten Hype, heißesten Trend, wichtigsten Neuling. Es gab kaum eine Abstufung zwischen längst in den Leihbibliothekshimmel zweiter Klasse eingegangenen Klassikern, etablierten Aktiven und Neulingen. Leser und Verlage sortierten Bücher nicht, als handle es sich um schnell welkende Salatköpfe. Hand und Auge suchten anders durch das Angebot in der Buchhandlung, ein Text aus den 20er Jahren und ein Titel der Saison waren, jedenfalls innerhalb ihrer Subgenres, gleichrangige Konkurrenten.

 

Das ist vielleicht keine Verklärung, verbindet sich der milde Widerschein solcher Verhältnisse in der trüben Kristallkugel namens Gehirn doch mit der Erinnerung an Frustration und Wut. So beharrlich hielt sich der betagte britische Whodunit am Markt, dass er für viele (Nicht)-Leser, auch für Literaturwissenschaftler, Kritiker und sonstige Sekundärprofis, die Gattung klar zu definieren schien. Traf man in einer Buchhandlung auf Bücher von Chandler und Hammett , hatte man bereits die Nische der „Moderne“ gefunden in der schnuckligen Krimiwelt von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers. War etwas noch neuer, war es verdachtshalber schon fast kein ehrenwerter Krimi mehr, sondern eine Räuberpistole, also richtig reißerischer Schund.

Das Fegefeuer ewiger Erklärung

Wer damals über Krimi schrieb, diskutierte oder auch nur Konversation machte, wurde von der Fegefeuervision geplagt, noch in fünf Ewigkeiten erklären zu müssen, dass Krimi nicht a priori, nur und überhaupt ein Rätselspiel entwerfe, in dem ein genialisches Detektivgehirn hinter unscheinbarer Stirn im Wettlauf mit dem ebenfalls knobelnden Leser alle möglichen Alibivarianten, Uhrzeitangaben und Wegemöglichkeiten einer Landhausbesuchergruppe durchrechnete, um so den Mörder des Hausherrn zu entlarven.

Vergangene Zeiten, fürwahr. Zwischen mit Lebendfleischschnitzereien protzenden Serienkillerfetzern, blaskapellensensiblen Trachtengaudis, wundendurchpulenden Leitfäden für den Hobbypathologen und ihren sozialdemokratischen Weltverbesserungskater vor sich hertragenden Schwedenkrimis hat man Mühe, in den Aktionstischweiten einer Großbuchhandlung einen Whodunit-Klassiker zu finden.

Konkurrent Netzflohmarkt

Gut, könnte man sagen, dann ist eben ein lange überexponiertes Krimimodell vorübergehend wenigstens aus der Mode geraten. Aber es ist wohl doch ein bisschen komplizierter mit den Marktverschiebungen. Auch das, was damals regelmäßig zum Beispiel aus der harten amerikanischen Krimischule nach Deutschland geholt wurde, ist vom Neubuchmarkt verschwunden. Wagt sich jemand an Klassikerausgaben – der Alexander-Verlag etwa an die Bücher von Ross Thomas – dann wird das in den einschlägigen Randspalten der Feuilletons bejubelt und bestaunt wie ein nicht mehr zu erwartender archäologischer Fund, als seien die Nase der Sphinx oder das soziale Gewissen der FDP wieder aufgetaucht.

Die Gegenwartsproduktion an Krimis ist so enorm, dass für die Vergangenheit kaum noch Platz bleibt. In jedem neuen Manuskript könnte ja der nächste Megabestseller schlummern. Das alte dagegen scheint bereits ausgewertet. Und im Zeitalter des 10-Cent-Buchflohmarkts im Netz fürchten viele Verleger nachvollziehbarerweise, Werbekampagnen für Neuausgaben würden eher den Verkauf der billigen Gebrauchten ankurbeln als den des eigenen Produkts.

Letzte Chance für die Klassiker

Wie das E-Book sich auf diese Vernachlässigung des Alten auswirkt, darf man nun gespannt beobachten. Einerseits bringt die neue Publikationsmöglichkeit noch viel mehr Neuerscheinungen mit sich, auch Massen an von Selbstkritik und Stilempfinden unbeleckter Das-kann-ich-auch-Literatur. Anderseits verringert sie mittelfristig den logistischen Aufwand für eine Neuauflage, und sie schafft in der Körperlosigkeit von Neuerscheinung und Klassiker Chancengleichheit: weder bibliophiles Hingezogensein zu diesem oder jenem Erscheinungsbild noch Ekel vor abgenutzten Flohmarkten kommen hier zum Tragen.

Wer es gerne gemütlicher und altmodischer hatte, der sammelte in den Achtzigern und Neunzigern Dumonts Kriminal-Bibliothek, die übrigens nicht nur Cozys und Whodunits umfasste. Aus den Buchhandlungen ist sie verschwunden, aber einige Titel sind als E-Book bei Dumont bereits wieder aufgetaucht, Bücher von Edmund Crispin, John Dickson Carr, Michael Innes und Steve Hamilton etwa. Zwischen den Reizauslösungsapparaturen der modernen Bestsellerei hie und den die Ausgrenzungsmuster von einst reaktivierenden Wünschen einiger Kritiker, den Krimi nur noch in seiner Avantgarde-Variante gelten zu lassen, wirken sie etwas verloren. Das ist wohl die Chance der Krimiklassiker: Wer hätte kein Herz für die Verlorenen?