Tobias Dahm hat gute Chancen auf ein Olympia-Ticket nach Rio de Janeiro. Dafür trainiert er sehr hart. Wenn er in seinem Vollzeitjob als Prototypenentwickler bei Daimler Feierabend hat, fängt sein Fünfstundentag als Kugelstoßer erst an.

Sindelfingen - Der Weg zu Olympia beginnt für Tobias Dahm jeden Morgen um 4.30 Uhr. Was folgt, ist ein Achtstundentag bei Daimler in Sindelfingen. Und danach quält er sich noch mindestens fünf Stunden lang in Stuttgart mit Sprüngen, Sprints und Gewichten. Der Kugelstoßer bringt Hochleistungssport und einen anspruchsvollen Beruf unter einen Hut, denn trotz guter Aussichten auf einen Olympia-Start im Sommer in Rio kann der 29-Jährige von seinem Sport nicht leben.

 

Dahm kommt an diesem Tag etwas abgespannt in die Molly-Schauffele-Halle. Der Olympiastützpunkt (OSP) der Leichtathleten liegt gut versteckt hinter der Gegengerade der Mercedes-Benz-Arena. Mit 2,03 Meter Größe und knapp 130 Kilogramm ist Tobias Dahm selbst in müdem Zustand eine imposante Erscheinung. Nach einigen lockeren Runden durch die Halle greift er zu seinem Arbeitsgerät, der 7,26 Kilo schweren Metallkugel. Mit unglaublicher Wucht stößt er das Gerät von sich. Sein bisher bester Versuch landete im Februar bei 20,56 Meter – eine Weltklasseweite. Mit seiner Bestleistung hat er die magische Marke von 20,50 Meter für die Olympia-Qualifikation bereits überboten – allerdings unter dem Hallendach. „Ich muss diese Leistung im Sommer wiederholen, um bei den Spielen dabei zu sein.“

Der lange Weg zur 20-Meter-Marke

Vor vier Jahren hatte sich der Sportler des VfL Sindelfingen erstmals den 20 Metern genähert. Mit 19,96 Meter wurde er Zweiter bei den deutschen Meisterschaften. Zwei Jahre harten Trainings brachten Dahm dann genau einen Zentimeter weiter – bis in diesem Jahr schließlich die erhoffte Leistungsexplosion kam. Belohnt wurde seine Beharrlichkeit mit Platz acht bei den Hallenweltmeisterschaften in Portland in den USA und – in Abwesenheit des zweimaligen Weltmeisters David Storl – mit seinem ersten Titel als deutscher Meister.

Doch vor der Leidenschaft steht der Beruf. Bei Daimler arbeitet der gelernte Kfz-Mechatroniker an Mercedes-Erlkönigen. „Heute habe ich mich mit der Elektronik der neuen E-Klasse beschäftigt“, erzählt er. Von einem Dasein als Vollzeitsportler kann der Kugelstoßer nur träumen. Auf die Frage, wie es nach seinen jüngsten Erfolgen mit Sponsoren aussehe, zuckt der Zweimetermann mit den Schultern. „Mau wie immer“, sagt er lakonisch. Der Sportartikel-Gigant Nike hat ihn zwar unter seine Fittiche genommen, doch auf Dahms Bankkonto hat das keine Auswirkung. „Ich bekomme aber zumindest meine Ausrüstung gestellt“, sagt er. Ein kleiner Fortschritt nach mehr als zehn Jahren Hochleistungssport. Auch die Kreissparkassen aus Calw und Böblingen sowie der VfL Sindelfingen unterstützen den Athleten finanziell. Doch davon zu leben ist nicht möglich.

Die Situation von Tobias Dahm ist Alltag  für die meisten Leistungssportler in Deutschland. „Nach meiner Schätzung können nur rund 20 Prozent der Hochleistungssportler am OSP die Ausgaben für ihren Sport durch Prämien und Preisgelder refinanzieren“, sagt der Chef des Stuttgarter Olympiastützpunkts, Thomas Grimminger. Zudem hätten die Behörden-Sportler – also Mitglieder von Bundeswehr, Bundespolizei oder Zoll – durch ihren Sold eine gewisse Absicherung. „Aber zu wenig, um langfristig davon leben zu können.“ Wie lässt sich diese Situation verbessern? „Nicht ohne ein grundsätzlich anderes Engagement der Wirtschaft, die den olympischen Sport nicht im Sponsor-Fokus hat“, sagt Grimminger. So bleibe die Abhängigkeit des olympischen Sports von der öffentlichen Hand wohl weiterhin „sehr groß“.

Rohe Kraft

Mit der Kugel trainiert Dahm an diesem Tag verschiedene Versionen der Wettkampfbewegung. Unter seinen Kollegen ist er nicht gerade für seine filigranen Bewegungsabläufe, mehr für seine rohe Kraft bekannt. Daher ist der Ring, aus dem die Kugel gestoßen wird, vor eine Art Netz gestellt. Das Sportgerät fliegt einige Meter und prallt dann zurück. „So sehe ich nicht, wie weit der Versuch geht und kann mich besser auf den Bewegungsablauf konzentrieren“, erklärt Dahm.

Auf den technischen Feinschliff folgt die wahre Spezialität des Kugelstoßers – der Kraftraum. Reißen, Nackenstoßen, Beinpresse oder Bankdrücken sind die Übungen, die Dahm teilweise mit absurden Lasten absolviert. „Mit der Freihantel komme ich beim Bankdrücken auf bis zu 280 Kilogramm“, sagt er nebenbei. Dabei biegt sich die dicke Metallstange bedenklich.

Neben den kraftraubenden Trainingseinheiten und der Arbeit an der Elektronik der Daimler-Prototypen bewältigt Tobias Dahm täglich ein gewaltiges Fahrpensum. Er wohnt in Neuhengstett im Kreis Calw, arbeitet in Sindelfingen und trainiert die meiste Zeit in Bad Cannstatt. Ein normaler Arbeitstag endet für ihn nie vor 22 Uhr. „Dann brauche ich nur noch was zu essen und mein Bett“, sagt er. Das Privatleben kommt oft zu kurz: „Es geht alles, wenn man ein Ziel vor Augen hat.“

Trainingslager statt Urlaub

Seine Urlaubstage nutzt Tobias Dahm seit Jahren nicht zur Erholung, sondern für  Trainingslager und Wettkampfreisen. Wann er zuletzt einfach nur so in die Ferien gefahren ist? „Ich weiß nicht genau“, sagt er verwundert und denkt lange nach. „Da war ich wahrscheinlich gerade mal 19 oder 20.“

Ändern will er an diesem extrem anstrengenden Mix aus Arbeit, Autofahren und hartem Training vorerst nichts. „Das hat ja bisher sehr gut funktioniert.“ Auch wenn er weiß, dass er damit eigentlich im Nachteil zur internationalen Konkurrenz steht. „Wenn das aber mein einziger Nachteil wäre, hätte ich keine Probleme“, sagt Dahm mit einem Augenzwinkern und spielt damit auf das Thema Doping an, das die Leichtathletik immer wieder erschüttert.

„Ich kann zwar niemanden beschuldigen, solange er nicht positiv getestet wurde“, sagt er, „doch man macht sich natürlich so seine Gedanken.“ Dahm ist verpflichtet, ein digitales Protokoll seines Lebens zu führen. „Ich muss online angeben, wo ich mich an jedem Tag zwischen fünf Uhr am Morgen und 23 Uhr aufhalte“, sagt er. So wissen die Doping-Kontrolleure stets, wo sie ihn finden und kontrollieren können. „In diesem Jahr hatte ich bereits vier unangemeldete Kontrollen“, sagt Dahm. Nach einer kurzen Pause fügt er mit Blick auf die Konkurrenz aus Osteuropa hinzu: „Ich kann nicht mal so eben für ein Trainingslager in die Äußere Mongolei verschwinden, wo mich niemand findet.“

Rekord auf historischem Grund

Die Steigerung auf 20,56 Meter legte Dahm auf historischem Grund hin. Der Wettkampf fand in Sassnitz in Mecklenburg-Vorpommern statt. Beim selben Meeting kam es in den achtziger Jahren bereits zu Duellen der DDR-Kolosse Ulf Timmermann (Bestleistung 23,06 Meter) und Udo Beyer (Bestleistung 22,64 Meter). Der eine Olympiasieger von 1988 in Seoul, der andere 1976 Champion in Montreal.

In Sassnitz kam die Legende Beyer auf Tobias Dahm zu, man unterhielt sich eine Weile. Dahm erzählte auch von seinem vollgepackten Alltag – worauf Beyer, der zu DDR-Zeiten kaum etwas anderes zu tun hatte, als sich mit seinem Sport zu beschäftigen, nur meinte: „Unter diesen Bedingungen hätte ich nicht so weit stoßen können.“