Der Katastrophe von Beirut folgt eine humanitäre Katastrophe. Der Staat ist pleite, das Volk hungert, die Politik handelt nicht.

Beirut - Kein Strom, kein Wasser, kein Geld, keine Politiker, die Verantwortung übernehmen – ein Jahr nach der Explosionskatastrophe von Beirut ist die Lage im Libanon schlimmer als je zuvor. Das Unglück, der Tod von mehr als 200 Menschen und die Zerstörung ganzer Viertel der Hauptstadt haben das kleine Land am Ostufer des Mittelmeeres noch tiefer in die Krise gerissen.

 

217 Menschen starben, mehr als 6000 wurden verletzt

Am frühen Abend des 4. August brach in einem Lagerhaus von Beirut ein Feuer aus. Die Flammen entzündeten mehr als 2000 Tonnen Ammonium-Nitrat, das ohne Sicherheitsvorkehrungen gelagert wurde. Das Resultat war eine der schwersten nicht-atomaren Explosionen der Weltgeschichte: Sie verwüstete die Hafengegend, tötete 217 Menschen und verletzte mehr als 6000.

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Demonstranten protestierten gegen Politiker und Behörden, die sich nie um die Schlamperei in dem Lagerhaus gekümmert hatten. Die Regierung trat zurück, ist aber bis heute geschäftsführend im Amt. Die Explosion verschärfte eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Inflation liegt bei 100 Prozent im Jahr. Weil der Staat kein Geld mehr hat, fallen Strom und Wasser immer häufiger aus; das UN-Kinderhilfswerk Unicef warnt, dass die Trinkwasserversorgung bald ganz zusammenbrechen könnte. Jeder zweite der knapp sieben Millionen Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze.

Lesen Sie aus unserem Angebot: Bei den Protesten gab es zahlreiche Verletzte.

Weil der Libanon in wenigen Wochen von Sonderziehungsrechten beim Internationalen Währungsfonds (IWF) im Wert von 900 Millionen Dollar profitieren kann, ist das Interesse an politischen Veränderungen gering. Die libanesischen Politiker hofften, mit dem Geld vom IWF bis zu den Wahlen im nächsten Jahr durchzukommen, sagte die Expertin Randa Slim vom Nahost-Institut in Washington jetzt bei einer Anhörung im US-Kongress.

Verängstigte Bürger heuern Milizen an

Beobachter befürchten noch Schlimmeres. Mancherorts heuerten Normalbürger Milizen an, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten, sagte Slim. Am Wochenende starben Menschen bei Zusammenstößen zwischen sunnitischen Muslimen und der schiitischen, vom Iran finanzierten Hisbollah-Miliz südlich von Beirut. Das Gespenst eines Bürgerkrieges geht um.

Die politische Elite macht nicht den Eindruck, als habe sie den Ernst der Lage erkannt. Monatelang stritten sich Präsident Michel Aoun und der frühere Ministerpräsident Saad Hariri über die Zusammensetzung eines neuen Kabinetts. Nachdem Hariri Mitte Juli aufgab, erhielt der Milliardär Najib Mikati den Auftrag zur Regierungsbildung. Der 65-jährige war zweimal Ministerpräsident und stand vor zwei Jahren im Zentrum von Korruptionsvorwürfen. In den vergangenen Tagen gab es bereits die ersten Protestkundgebungen gegen Mikati.

Bisher wurde niemand zur Rechenschaft gezogen

Auch ein Jahr nach der Explosion von Beirut ist noch kein hochrangiger Beamter oder Politiker zur Rechenschaft gezogen worden. In einem Bericht zum Jahrestag kam die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zu dem Schluss, die Spitzen von Staat und Regierung seien über die Gefahr durch das Ammonium-Nitrat informiert gewesen, hätten aber nicht gehandelt.