Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Ich habe den Eindruck, dass manche Kinder schwierig sind, obwohl sich die Eltern sehr um ihr Wohl bemühen.
Ich würde niemals sagen, dass ein Kind schwierig ist, sondern dass die Familie ein Problem hat. Wenn man genauer hinguckt, findet man immer Ursachen für dieses Problem. So gibt es auch verwöhnt-verwahrloste Kinder, die überversorgt sind und eine falsche Erwartungshaltung entwickelt haben. Die ticken aus, wenn sie nicht bekommen, was sie haben wollen . . .  
. . . und landen dann womöglich in Ihrer Obhut.
Grundsätzlich kommen Kinder aus hoch belasteten Familien zu uns. Die Gründe, die zu den Belastungen führen, sind unterschiedlich: Scheidungen, Gewalt, Alkohol- und Drogenprobleme, oft ein Mix aus mehreren Faktoren. Entweder wird das Jugendamt auf solche familiären Krisen hingewiesen, etwa von der Polizei oder von der Schule, oder die Familien wenden sich von sich aus ans Jugendamt, weil sie nicht mehr weiterwissen.
Sind die Eltern in der Regel damit einverstanden, wenn ihr Kind ins Heim kommt?
Häufig sind sie das nicht. Jugendämter und Familiengerichte operieren im Spannungsfeld zwischen Elternrecht und Kindeswohl. Die schwierige Aufgabe besteht darin, dass man den Punkt erkennt, an dem das Kindeswohl so gefährdet ist, dass das Elternrecht nicht mehr greifen kann. Mit der Zeit wächst aber bei vielen Eltern die Einsicht, dass es gut ist, dass ihr Kind nicht mehr nah bei ihnen ist. Durch die Trennung wird die Luft aus einem Konflikt gelassen. Es geht bei den Streitereien ja oft um Alltagsdinge: Schulschwänzen, pubertäres Verhalten und so weiter. Durch den Abstand kommt es wieder zu einer Annäherung. Unser Ziel ist, dass die Kinder irgendwann wieder in ihre Familien zurückkehren können.
Aus welchen Milieus kommen die Kinder?
Die größte Gruppe kommt sicherlich noch immer aus armen, bildungsfernen Familien: Hartz-IV-Empfänger, beengte Wohnverhältnisse, viele Kinder unter einem Dach. Mehr als die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Wenn ein türkisches Mädchen vor 15 Jahren nicht gehorcht hat, wurde es kurzerhand aus der Familie ausgeschlossen. So läuft das heute nicht mehr. Nun kommen die Mädchen heim, und die Väter rasten aus: „Was bist du für eine Schlampe? Wie läufst du wieder rum?“ Und die Tochter sagt: „Meine Klassenkameradinnen laufen alle so rum.“ Es kommt unweigerlich zu Spannungen, wenn innerhalb einer Familie zwei Kulturen aufeinanderprallen.
Betreuen Sie auch Flüchtlingskinder in Ihrem Heim?
Ja: Syrer, Eritreer, Afghanen, Marokkaner . . . Wenn’s nach uns gegangen wäre, hätten wir jedes Kind in einer unserer normalen Wohngruppen untergebracht. Aber auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle war das unmöglich, weil es einfach nicht genügend Kapazität in den bestehenden Gruppen gab. Deswegen haben wir noch immer zwei Gruppen, die ausschließlich aus Flüchtlingsjungen bestehen, die ohne Eltern nach Deutschland gekommen sind.
Wie kommen Sie mit diesen Jungen zurecht?
19 von 20 minderjährigen Flüchtlingen machen keinerlei Probleme. Aber die restlichen fünf Prozent halten uns auf Trab, weil sie kriminell sind. Sie räubern durch die Gassen, klauen Handtaschen und anderes. Werden sie erwischt, verhört sie die Polizei, dann landen sie wieder bei uns, weil sie gerade mal 12, 13 Jahre alt sind und somit noch nicht strafmündig. Wir haben keine Idee, wie wir das ändern können, weil diese Jungen nichts von uns Pädagogen wissen wollen. Sie spucken auf uns, manchmal auch im wahrsten Sinne des Wortes. Im Grunde sind das arme Kerle, es kommt ja niemand als Dieb zur Welt. Das Schlimme ist, dass sie mit ihrem Verhalten nicht nur Flüchtlinge generell diskreditieren, sondern auch unsere Einrichtung in ein schlechtes Licht rücken. Ich freue mich gewiss nicht, wenn jeden zweiten Tag ein Streifenwagen vor unserem Haus parkt.
Was könnte man dagegen tun?
Der deutsche Staat ist verpflichtet, jeden Minderjährigen, der hier ohne Eltern auftaucht, in seine Obhut zu nehmen. Das kann und darf man nicht ändern. Es gibt nur einen Weg: Wir müssen Jugendhilfe dort installieren, wo die Probleme entstehen, also beispielsweise in Marokko. Warum sollte Deutschland nicht in Nordafrika Sozialarbeiter ausbilden?
Kurzfristig hilft das nicht.
Das stimmt. Wir benötigen Sicherheitspersonal, das auf die Jungs aufpasst, und ein speziell auf sie zugeschnittenes pädagogisches Angebot – in der Hoffnung, dass wir zu dem ein oder anderen doch noch einen Zugang finden.
Bauen nur Flüchtlinge Mist?
Natürlich haben wir auch mit anderen Jugendlichen ab und an Theater. Vor einiger Zeit hat ein 18-Jähriger in der Nacht vor seiner Entlassung aus dem Heim im Suff eine halbe Schrebergartensiedlung in Seckenheim verwüstet. Unser Hausmeister war drei Wochen lang damit beschäftigt, wieder alles in Ordnung zu bringen. Ein anderer hat im Ort auf Hauswände Graffiti geschmiert. Daraufhin bin ich mit dem Jugendlichen und einem Malermeister durch Seckenheim marschiert, und wir haben gemeinsam alle Schäden erfasst. Anschließend musste der junge Mann dabei helfen, die Hauswände frisch zu streichen. Meine Botschaft ist: Wir haben nichts zu verbergen, auch dann nicht, wenn unsere Kinder etwas ausgefressen haben.