Im Prozess um die Morde im „Horrorhaus“ von Höxter schweigt der Angeklagte. Dafür reden zwei Frauen, die mit ihm ein neues Leben beginnen wollten. Es sind Geschichten von Hoffnung und enttäuschter Liebe.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Höxter - Die Vertrauensseligkeit oder gar Einsamkeit eines Opfers machen eine Tat nicht kleiner und Täter nicht weniger gefährlich. Aber die bohrende Frage in diesem Prozess um das sogenannte Horrorhaus von Höxter-Bosseborn ist: Warum haben manche Frauen den Kontakt zu dem Angeklagten Wilfried W. rechtzeitig abgebrochen, sind gegangen und warum sind andere geblieben, haben sich förmlich in seine Arme geworfen, bis es zu spät war und – sie buchstäblich im Dreck verreckten. Was sagten die furchtbaren Ereignisse in dem 550-Seelen Ort in Ostwestfalen über die privaten Träume der Opfer aus?

 

Der 16. Verhandlungstag ist der Tag der Scham, der enttäuschten Hoffnungen und der gescheiterten Lebensentwürfe – und nicht des vordergründigen Grauens. Bernd Emminghaus, der Vorsitzende Richter der Schwurgerichtskammer am Landgericht Paderborn, hat mehrere Frauen geladen, die von ihrer Beziehung zu Wilfried W. erzählen. Der 46-jährige W. ist zusammen mit seiner Ex-Frau Angelika (47) des zweifachen Mordes und der sechsfachen Körperverletzung angeklagt. Schnell ist an diesem Dienstag klar: Mit dem Mann allein, der mit Dreitagebart, in hellblauem Hemd und schwarzer Lederjacke, deutlichem Übergewicht, den Berichten der Frauen genau zuhört und sich Notizen macht, konnte keine von ihnen eine Beziehung eingehen. Ihn gab es nur im Doppelpack mit seiner Ex-Frau, die er den Frauen gegenüber als seine Schwester ausgab.

We war die treibende Kraft?

Die beiden haben ein mehr als ambivalentes Verhältnis zueinander. Das Gericht muss auch die Frage klären, wer der beiden die treibende Kraft in dem Geschehen war. Zwei Verhandlungstage lang hat Wilfried W. – anders als angekündigt –, doch über sich und seine Kindheit gesprochen. Zuvor hatte er seiner Ex-Frau das Reden überlassen. Geredet hat bis März nur Angelika W. Sie hat ihren Lebensgefährten und auch sich selbst schwer belastet und Listen mit 66 Arten der Tortur und Folter geschrieben, welche die Opfer der beiden erdulden mussten – von Verbrühungen über ausgerissene Haare und das Kahlscheren des Kopfs bis zum Anketten, nackt am Heizkörper oder in der Badewanne. Die Fantasie der Gewaltanwendung war offenbar grenzenlos. Nun schweigt der Angeklagte wieder. Er ertrage die Reaktionen des Publikums nicht und schon gar nicht die Blicke seiner Ex-Frau.

Das war einmal anders: Angelika W. beschimpfte die Frauen, mit denen Wilfried W. durch Bekanntschaftanzeigen in Kontakt getreten war, in Telefonaten, wenn sie glaubte, er werde nicht gut behandelt. Sie fuhr ihn, von dem sie nun nur noch als „Herr W.“ spricht, zu seinen Verabredungen – und forderte auch in seinem Namen Geld von mindestens einer der Frauen. 3500 Euro für ein Auto hat eine der beiden Zeuginnen Wilfried W. geliehen, wie sie glaubte. Angelika W. bedankte sich dann für das Geldgeschenk am Telefon und forderte obendrein noch das Geld für die Anmeldung. Da war für Marianne K. aus dem nahe gelegenen Holzminden Schluss. Ihr dämmerte wohl, dass es für Wilfried W. nur um regelmäßigen und einvernehmlichen Sex ging – und um die Finanzierung seiner Automanie. Und nicht um den Traum vom gemeinsamen Leben. Denn Autos und Motorräder kaufte er offenbar alle paar Tage und stieß sie wieder ab, wenn er sie nach kurzer Zeit nicht mehr haben wollte.

Die befragten Frauen wollen vor allem vergessen

Die Frauen, die am Dienstag eher verschämt als selbstbewusst auftreten, allesamt an die 20 Jahre älter als Wilfried W., erzählen wortkarg davon, was sie „vergessen wollen“, wie es die 61-jährige Marianne K. sagt. Oder sie haben einfach alles aus ihrer Erinnerung gelöscht, wie es Petra B. (66) ausdrückt – und damit nicht nur den Speicher ihres Handys und die Sprach- und Whatsapp-Nachrichten meint. „Ich will mit dem allem nichts mehr zu tun haben“, sagt sie. Und nun werden sie beide gefilmt, wie sie den Gerichtssaal verlassen. Als reiche es nicht schon, mit den enttäuschten Hoffnungen leben zu müssen.

Denn wie erklärt man in einem übervollen Gerichtssaal, warum man mit einem Mann eine Beziehung eingegangen ist, der gemeinsam mit seine Ex-Frau Menschen gequält und gemordet haben soll? „Er war nett zu mir“, sagt Marianne K. nüchtern. Was hat er ihr nicht alles von sich erzählt. Dass er Abitur und studiert habe, einen Boots- und einen Flugschein besitze. Nichts davon ist wahr. Aber Wilfried W. hat sich auf die Kontaktanzeige der verwitweten Rentnerin gemeldet, die einen Partner suchte, mit dem sie etwas unternehmen konnte. Fehlanzeige. Wegen seiner Gicht könne er nicht gut laufen. Immer neue Ausreden erfand Wilfried W. Nicht einmal in die Eisdiele gehen die beiden miteinander. Immer am Abend kommt er, zwei- bis dreimal die Woche, in die Wohnungen der Frauen , weil er den Kiosk versorgen müsse, den er mit seiner Schwester betreibe. Am Wochenende muss er die Eier von seinem Hühnerhof ausfahren. Mit den Tieren dort, den Schafen, Gänsen und Enten, meint er es offenbar gut. Auf dem Hof in Höxter waren Marianne K. und Petra B. nie.

Das Opfer verliebte sich Hals über Kopf

Wilfried W. habe gesagt, dort sei es nicht so aufgeräumt wie bei den jeweiligen Frauen. Wer weiß, was den beiden erspart blieb. In Erinnerung ist Marianne K., wenn sie beiseiteschiebt, was sie später alles an Furchtbaren gehört hat, „ein liebevoller Partner“. Das macht das Vergessen schwer. So geht es auch Petra B. Am Telefon hat sie den Kontakt zu Wilfried W. abgebrochen, weil sie nicht mit ansehen wollte, wie der Mann weder das Betreiben des Kiosks auf die Reihe bekam noch seinen manischen Handel mit Autos. „Dafür war ich zu alt“, sagt sie. Und auch für die ständigen Maßregelung durch Angelika W., die aus der Ferne versuchte, Regie in dieser Beziehung zu führen.

Was mit den beiden Seniorinnen nicht gelang, schafften die W.s mit Susanne F. Sie ist die Frau, die Wilfried W. noch am Tag der Trennung von ihren Freund per Kontaktanzeige kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Sie ist das zweite Opfer des Paares, das die Begegnung nicht überlebt. Sie stirbt am 21. April 2016 in einer Klinik. Weil sie in schlechtem körperlichem Zustand ist, wollen die W.s sie zurück in ihre Wohnung bringen. Das Auto hat jedoch eine Panne. Die beiden rufen einen Notarzt. Durch Susanne F.s Tod kommen die Ermittlungen ins Rollen.

Der Emanzipationsprozess endet tödlich

Die 41-Jährige war Wilfried W. offenbar von Anfang an hoffnungslos ergeben. „Als hörig und durch ihn manipuliert“, beschreibt eine Freundin den Zustand der verzweifelt nach Geborgenheit und Bindung suchenden Frau, die offensichtlich bereit war, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Schon bei der ersten Begegnung im Dezember 2015 schläft sie mit Wilfried W. Sie träumt von einem neuen Leben mit ihm und ihrer elfjährigen Tochter, die zu diesem Zeitpunkt noch bei ihrem Mann lebt.

Hinter Susanne F. liegen zu diesem Zeitpunkt elf Jahre Ehe. Während einer Umschulung der IHK entfernt sie sich immer mehr von dem Ehemann. Das Fass zum Überlaufen in der kriselnden Beziehung bringt ein Treffen mit einem anderen Mann, während dem die Tochter einen Nachmittag lang ohne Aufsicht ist. Ihr Mann stellt ihr mehr oder weniger die Koffer vor die Tür. Im September 2015 zieht Susanne F. aus . Am 10. Oktober 2015 sieht ihr Mann sie zum letzten Mal. Sie teilt ihm noch ihre neue Adresse in Bad Gandersheim mit. Mit ihrer Tochter telefoniert sie jedoch weiterhin. Dass ihr Emanzipationsprozess tödlich enden wird, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Schließlich bricht auch der Kontakt zur Tochter ab. „Susanne F. hatte den Traum, mit Wilfried W. glücklich zu werden“, sagt ihre Freundin. Auch sie wird mehr und mehr aus diesem Leben gedrängt. Susanne F. bittet sie aus der Wohnung, wenn sie mit Wilfried W. telefoniert. Aber die Freundin bekommt mit, wie der Angeklagte auf Susanne F.s Liebesbekundungen am Telefon kalt reagiert. Da hatte er sie offenbar schon dort, wo er sie wollte: in völliger Abhängigkeit. „Sie war blind“, beschreibt die Freundin diesen Zustand. Susanne F.s Witwer hört erst wieder von seiner Frau, als die Polizei ihn von deren Tod informiert. „Ich habe immer noch gehofft, dass sie irgendwann zu mir zurückkommt“, sagt er.