Thomas Walther war Ermittler bei der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Von dort aus fahndete er nach den letzten noch lebenden SS-Männern, die in Auschwitz Dienst taten. Nun vertritt er Holocaust-Überlebende bei Prozessen – zurzeit in Detmold.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg/Detmold - Er kommt gerade noch zur rechten Zeit. Als Thomas Walther 2006 als Ermittler in der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eingestellt wird, liegt der Holocaust mehr als sechs Jahrzehnte zurück, und die Deutschen hatten sich eigentlich darauf eingestellt, die nicht gesühnten Verbrechen zwar zu beklagen, nicht aber anzuklagen, geschweige denn vor Gericht zu bringen. Mit dem neuen Staatsanwalt Walther, der für seine weltweiten Ermittlungen den Segen seines Chefs Kurt Schrimm bekommt, ändert sich das dramatisch.

 

Walther ist willens zu ermitteln, weil er der Überzeugung ist, dass schon die Anwesenheit in einem NS-Vernichtungslager wie Auschwitz als Beihilfe zum Mord einzuordnen ist. Nur so konnte die Tötungsmaschine funktionieren. Walthers weißes Haar, das er stets etwas wirr trägt, steht fast sinnbildlich für die Energie, mit der sich der Mann, der bis zu diesem Zeitpunkt Richter in Lindau war, in seine neue Ausgabe stürzt. Das Attribut Nazijäger bekommt er schnell. Doch nicht alle Staatsanwaltschaften haben die Vorermittlungen ihrer Ludwigsburger Kollegen so energisch aufgenommen, wie Walther es sich gewünscht hat.

Thomas Walther sucht nicht nur Täter. Um ihre Beteiligung am Völkermord zu belegen, braucht er auch die Aussage der Opfer. Walther macht sich auf die Suche, baut Vertrauen auf zu denen, die nicht glauben wollen, dass sich plötzlich noch jemand für ihr Schicksal interessiert – und wird so zum Öffner der Tür in die Vergangenheit. Walther bringt fortan Menschen zum Reden, weil er einer der ersten Deutschen ist, der ihnen zuhört.

Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Mord in 170 000 Fällen

Reinhold Hanning Foto: dpa

Aus den USA, aus Kanada, Israel und Berlin haben sich auch in den vergangenen Wochen alte Männer und Frauen auf die beschwerliche Reise in die ostwestfälische Provinz nach Detmold aufgemacht, um von dem Grauen zu erzählen, das ihr Leben bis auf den heutigen Tag prägt. 40 Nebenkläger treten in dem wahrscheinlich letzten Auschwitzprozess vor dem Landgericht Detmold auf. Die Staatsanwaltschaft Dortmund wirft dem Angeklagten Reinhold Hanning Beihilfe zum Mord in 170 000 Fällen vor. Hanning gehörte zu den SS-Wachmannschaften im KZ Auschwitz I.

Thomas Walther ist einer der Nebenkläger in dem Prozess und vertritt 26 NS-Opfer. Schon allein die pure Zahl ist ein Vertrauensbeweis. Walther könnte mit seinen 72 Jahren längst in Rente sein. Genau das Gegenteil ist der Fall. Dass er weitermacht, ist nur konsequent. Denn dass es diese Verfahren überhaupt gibt, ist auch sein Verdienst. Jetzt aufzuhören, das geht nicht für ihn.

Das Zustandekommen des Prozesses gegen John Demjanjuk, der zu den Hilfstruppen der SS im Lager Sobibor gehörte, war sein erster großer Erfolg. Das Landgericht München verurteilte den gebürtigen Ukrainer im Jahr 2011 wegen Beihilfe zum Mord zu einer sechsjährigen Haftstrafe. Das war ein Sieg über die bisherige Rechtsauslegung, die lange nur das individuell nachweisbare Morden bestraft hat.

Aber Walther wollte mehr als diese Verurteilung. „Ich wollte, dass der Prozess gegen Demjanjuk nicht nur durch sein Gesicht mit der Sonnenbrille und der Baseballkappe geprägt wird.“ Er setzte alles daran, dass auch die Opfer ein Gesicht bekamen – und wurde so etwas wie ihr Obmann vor den Gerichten der Republik, indem er als Pensionär ihr Nebenklagevertreter wurde. „Für die Opfer ist es von enormer Bedeutung, ihre Geschichte vor einer Instanz wie einem deutschen Gericht erzählen zu können“, sagt er. Es ist die Verbundenheit mit den Opfern und ihren Angehörigen, die ihn weitermachen lässt, und nicht fette Anwaltshonorare, die er ohnehin dafür nicht einstreicht.

Die jungen KZ-Dienstleute von einst sind Greise

Aber die Zeit, diese späte Gerechtigkeit zu erfahren, wird allmählich knapp. Der Detmolder Angeklagte Hanning ist 94 Jahre alt. In Kiel und Neubrandenburg reklamieren die Verteidiger einer angeklagten Funkerin und eines Sanitäters die Verhandlungsunfähigkeit ihrer 91-jährigen Mandantin und ihres 95-jährigen Mandanten. Die jungen KZ-Dienstleute von einst sind Greise, die schon vor langer Zeit in ein Leben in Normalität abgetaucht sind. „Die Täter leben Vorgarten an Vorgarten mit uns“, sagt Walther. Viele im Land finden, dass man sie aufgrund ihres Alters in Ruhe lassen solle.

Die Taten, derentwegen die Staatsanwaltschaft Hanning anklagt, haben in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 stattgefunden. Hanning war als Mitglied des SS-Totenkopfsturmbanns in der Bewachung im Stammlager Auschwitz eingesetzt. Seine Personalakte belegt das. Nach dem Krieg war er kurz Koch bei den Briten, danach arbeitete er in einem Milchgeschäft in Lage, einer Kleinstadt bei Detmold, das er nach dem Tod seiner Chefin übernahm. Über seine Zeit in Auschwitz und über das, was er dort getan oder erlebt hat, hat er nach eigenem Bekunden bis in die jüngste Gegenwart nicht gesprochen. Nicht mit seiner Ehefrau, nicht mit seinen Kindern, mit niemandem.

„In diesen Prozessen trifft die Gesellschaft auf ihre Vergangenheit“, sagt Walther. Niemand, so ist er überzeugt, erlebe ein solches Verfahren losgelöst von seinen Lebenserfahrungen. Für den einen sei es die Erinnerung an den eigenen Großvater, für den anderen seien es die Augen eines Kindes auf einem Foto aus dem Krieg in Afghanistan. Walther selbst hat die entscheidende Sozialisation wohl durch seinen Vater erfahren. Der habe während der Pogromnacht 1938 zwei Verfolgte bei sich versteckt. Das hat seinen Sohn offenbar nachhaltiger geprägt als die Ereignisse der Apo-Zeit. Er habe sich politisch gegen Vietnam und Gott und die Welt engagiert, die NS-Prozesse der 60er Jahre seien jedoch an ihm vorbeigegangen, räumt Walther ein.

Ein Angeklagter im Rollstuhl

Leon Schwarzbaum Foto: dpa

Hinter ihm im Gerichtssaal sitzt an dem Tag, an dem Hanning sein Schweigen brechen wird, Leon Schwarzbaum. 35 seiner Verwandten haben die NS-Schergen in Auschwitz ermordet. Walther vertritt auch ihn. „Das ist nicht mehr der Mann, der er früher war“, sagt Schwarzbaum über den greisen Angeklagten, der im Rollstuhl sitzt. Schweigend und mit meist gesenktem Blick hat Hanning die ersten zwölf Verhandlungstage verfolgt. „Man kann verhindern, mit Zeugen in Augenkontakt zu treten“, sagt Walther, „aber man kann nicht verhindern, dass das Gesagte auf einen wirkt.“ So sei das auch im Falle Oskar Grönings gewesen, den das Landgericht Lüneburg vergangenes Jahr als Buchhalter von Auschwitz wegen Beihilfe zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt hat. Gröning hat anders als Hanning jedoch vom ersten Verhandlungstag an geredet.

Am 13. Verhandlungstag lässt auch Hanning durch einen seiner beiden Verteidiger eine Erklärung zu seinem Leben und seiner Zeit als Wachmann in Auschwitz verlesen. Wie um das Gesagte zu unterstreichen, nickt der alte Mann immer wieder, während sein Anwalt vorliest. „Der Prozess hat den Angeklagten reifen lassen“, sagt sein zweiter Anwalt. „Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe“, liest Hanning dann auch noch selbst vor. Es tue ihm aufrichtig leid, sagt der Mann mit ein wenig brüchiger Stimme.

„Die intellektuelle Klarheit gebietet es, auch zu sagen, wofür ich mich entschuldige“, kommentiert Walther nüchtern. Die Wahrheit ist für ihn zwischen den Zeilen zu lesen. Dort etwa, wo Hanning sagt, zu dritt in einem Raum und nicht in einem Mannschaftsraum untergebracht gewesen zu sein. Das sage etwas über seine Stellung aus. Walther will nachfassen, aber kein Kreuzverhör führen. Hannings Anwälte haben schriftliche Fragen zugelassen, die sie mit ihrem Mandanten durchgehen wollen. Walther hofft, dass Hanning noch mehr berichtet. „Bis zu seinem letzten Wort vor dem Urteil hat er dazu ja Gelegenheit.“ Und Leon Schwarzbaum sagt: „Hanning soll in die Schulen gehen und erzählen, was geschehen ist.“ Die öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit sei ihm wichtiger als die Strafe.

Nach diesem Prozess könnte Walthers Leben ruhiger werden. Es könnte sein, dass mit dem Detmolder Urteil auch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe seine Entscheidung im Revisionsverfahren im Fall Oskar Grönings verkündigt. Wenn Walther die Zeichen richtig deutet, würde das, was er als Ermittler der Zentralen Stelle angestoßen hat, seinen höchstrichterlichen Segen bekommen. Denn Karlsruhe, so glaubt Walther zu wissen, werde das Lüneburger Urteil bestätigen und damit für Recht erklären, dass allein schon die Anwesenheit in einem Vernichtungslager die Verurteilung der Beihilfe zum Mord rechtfertige. „Das ist schon entscheidend“, sagt Walther und wartet weiter.

Wieder reist er von seiner Kanzlei in Kempten nach Detmold. Dort wird am Freitag wieder Reinhold Hanning, von seinem Sohn und Enkel begleitet, vor Gericht erscheinen. Von 6 Uhr an, vier Stunden vor Prozessbeginn, werden wieder die ersten Besucher anstehen. Es sind Schüler, Nachbarn des Angeklagten und Menschen, die sich die Chance nicht entgehen lassen wollen, einen solchen Prozess zu erleben, wenn er schon vor der eigenen Haustür stattfindet. Auch die 17-jährige Stina Ulbrich kommt wieder. Sie besucht den Geschichtsleistungskurs des Detmolder Grabbe-Gymnasiums. Ihr Lehrer stellt seine Schüler für einen Prozessbesuch vom Unterricht frei, wenn sie im Kurs berichten. Für Stina Ulbrich war die Aussage Hannings wichtig. „Wenn auch die Täter reden und sagen, was war, haben die Holocaustleugner keine Chance“, sagt sie – ganz im Sinne Thomas Walthers.