Mit 250 Stundenkilometern sollen Züge künftig unter den Schweizer Alpen hindurchrasen. Mehr als 2500 Mitarbeiter haben in 17 Jahren ein technisches Meisterwerk geschaffen – den Gotthard-Basistunnel,der am 1. Juni eingeweiht wird.

Erstfeld - Die Sonne scheint vom stahlblauen Himmel, ihre Strahlen wärmen die Arme und das Gesicht der Zugpassagiere. Wer den Kopf ganz nah ans Fenster lehnt, kann am Horizont die schneebedeckten Gipfel der zwischen 2000 und 3200 Meter hohen Berge sehen. Aber nur kurz – dann wird es Nacht. Alles versinkt im Dunkel. Willkommen im längsten Tunnelloch der Welt. 57 Kilometer zwischen Erstfeld, unweit des Vierwaldstätter Sees im Kanton Uri, und Bodio im Tessin, gebohrt durch das Gebirgsmassiv, das für die Schweizer seit Jahrhunderten eine geradezu mystische Symbolkraft hat: den Gotthard.

 

An diesem Mittwoch wird der Gotthard-Basistunnel eröffnet – ein Bauwerk der Superlative und des technischen Fortschritts. 17 Jahre sind vergangen, seit dem Start der Bohr- und Sprengarbeiten im Fels. In Spitzenzeiten haben mehr als 2500 Menschen aus mehr als zehn Ländern auf den verschiedenen Baustellen im Berg gearbeitet. Entstanden ist ein Tunnelsystem, das inklusive sämtlicher 176 Querschläge sowie der Verbindungs- und Zugangsstollen mehr als 152 Kilometer misst. 3200 Kilometer Kabel für die Stromversorgung und weitere 2600 Kilometer für die Datenübertragung. 9500 Lampen für die Notfallbeleuchtung. 400 Kilometer Schienen sind auf 480 000 Betonschwellenblöcken befestigt. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

28,2 Millionen Tonnen Stein wurden aus dem Berg gebrochen, das entspricht mehr als fünf Cheopspyramiden. Dank der erheblich sichereren Bauverfahren gab es weit weniger Unfälle als noch beim Bau des ersten Gotthard-Tunnels zwischen 1872 und 1882. Damals kamen 199 Arbeiter ums Leben, diesmal gab es neun Todesfälle.

64 Prozent der Schweizer stimmten für den Tunnel

Bereits seit 1882 rauscht die Eisenbahn durch den Gotthard. Unzählige Kehrtunnel und der mit 15 Kilometern längste Tunnel seiner Zeit machten es möglich. Was den neuen vom alten Tunnel unterscheidet, ist neben der viel größeren Länge vor allem die enorme Tiefe, die gerade Streckenführung und seine Ebenerdigkeit. Bei nur geringen Steigungen sowie ohne enge Kurven verläuft der Basistunnel auf einer Höhe von maximal 550 Metern über dem Meeresspiegel. Die Züge müssen nur noch eine Steigung von maximal zwölf Promille überwinden, statt wie bisher 26 Promille. Experten sprechen daher von einer „Flachbahn“. Statt 1100 Metern Gebirgsmasse wie beim alten, türmt sich über dem neuen Tunnel bis zu den Gipfeln eine Felsüberlagerung von bis zu 2300 Metern.

Mit Beginn der fahrplanmäßigen Fahrten Mitte Dezember können Personenzüge mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern durch den Tunnel rasen, Güterzüge mit 160 Stundenkilometern. Wenn bis 2020 auch der im Süden anschließende, 15,4 Kilometer lange Ceneri-Tunnel fertiggestellt ist, verkürzt sich die Fahrzeit zwischen Zürich und Lugano um 45 Minuten auf zwei Stunden. Zahlen, die Augen leuchten lassen in einem Land, dessen Einwohner im Schnitt knapp 2700 Bahnkilometer pro Jahr zurücklegen, und damit unangefochtene Weltmeister sind. Auch das war ein Grund, warum im Jahr 1992 knapp 64 Prozent der stimmberechtigten Schweizer Ja gesagt haben zum Bau der schweizerischen Alpentransversale, zu der neben dem Gotthard- auch der 2007 eröffnete, 34,6 Kilometer lange Lötschberg-Basistunnel gehört.

Noch entscheidender aber war das Ziel, deutlich mehr Gütertransporte von der Straße auf die Schiene zu bringen. Als nach dem Fall der Mauer der europäische Binnenmarkt Mitte der 1990er Jahre richtig Fahrt aufnahm, immer mehr Lastwagen über die Schweizer Straßen donnerten und die Alpentäler an den Transitachsen in neblige Abgasschleier hüllten, versuchten die Eidgenossen die Notbremse zu ziehen – in Form eines Transitvertrages mit der EU. Brüssel wollte europaweit freie Fahrt für 40-Tonnen-Lkws – auch zwischen Bodensee und Tessin. Die Schweizer aber wehrten sich. 28 Tonnen maximal sollten die Lastwagen auf den Straßen des Alpenlandes wiegen dürfen. Und um der Verkehrslawine Herr zu werden, wollen sie die Lkw-Transitabgabe von 40 auf über 300 Franken erhöhen. Im Gegenzug, so der Deal, bauen die Schweizer die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat).

Hauptziel ist es mehr Gütertransporte von der Straße auf die Schiene zu bringen

Rund 1,4 Millionen Lastwagen haben im Jahr 2000 die Schweizer Alpen überquert, rechnet das Schweizerische Bundesamt für Verkehr (BAV) vor. Mehr als die Hälfte davon im Transitverkehr. Ziel ist, bis 2018 die Zahl dieser Fahrten auf 650 000 pro Jahr zu begrenzen. Dazu wurde im Jahr 2001 die sogenannte leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe – die schweizerische Lkw-Maut – eingeführt. Zwar wird die Marke von 650 000 Lkw-Fahrten pro Jahr noch immer deutlich überschritten, immerhin ist aber seit 2010 ein langsames Absinken von 1,2 auf zuletzt noch 1,01 Millionen Lastwagen im Jahr 2015 zu beobachten. Ohne die flankierenden Maßnahmen ist Peter Füglistaler, Direktor des BAV, überzeugt, „wären pro Jahr schätzungsweise 700 000 Lastwagen mehr auf Schweizer Straßen unterwegs“. Jetzt soll der Gotthardtunnel zusätzliche Entlastung bringen.

Das Schweizer Jahrhundertbauwerk, das sieben Kilometer länger ist als der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal zwischen Frankreich und England, könnte Verantwortliche für Großprojekte in Deutschland erblassen lassen: Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks gelang den Eidgenossen trotz der großen Dimensionen und all der Unwägbarkeiten im Berg eine Punktlandung. Zwar lagen die Kosten etwas über der prognostizierten Summe, sind aber seit 2008 im Plan. Auch gab es in allen Bauphasen große Transparenz. „Es ist relativ gut gelaufen“, sagt der Bauingenieur und Chef der für den Bau verantwortlichen Alp Transit AG, Renzo Simoni, in Schweizer Bescheidenheit.

Der Tunnel steht für präzise und kluge Planung, technische Brillanz – und eine verlässliche Finanzierung. 12,2 Milliarden Franken (elf Milliarden Euro) lässt sich die Schweiz ihr Jahrhundertbauwerk kosten. Das gesamte Alpentransit-Projekt samt Lötschberg- und Ceneri-Tunnel wird sich am Ende auf rund 23 Milliarden Franken summieren. Zwei Drittel davon werden durch die Schwerverkehrsabgabe für Lastwagen auf der Autobahn finanziert, hinzukommen Einnahmen aus der Mehrwert- und Mineralölsteuer.

Deutschland hinkt beim Ausbau der Rheintalbahn massiv hinterher

Bis zu 260 Güterzüge pro Tag können künftig das Gotthardmassiv durchqueren, statt wie bisher maximal 180 auf der alten Bergstrecke. Ob es aber gelingt, dadurch noch mehr Gütertransporte von der Straße auf die Schiene zu verlagern, hängt maßgeblich vom nördlichen Nachbarn ab. Denn die entscheidende Zufahrtsstrecke für den Gotthard führt von Karlsruhe nach Basel entlang des Oberrheins. Und Deutschland ist massiv in Verzug. Zwar hat sich die Bundesrepublik in einem Staatsvertrag 1996 verpflichtet, die 182 Kilometer lange Rheintalbahn auszubauen, geschehen ist bisher allerdings wenig. Immerhin: Im Januar bewilligte der Bundestag zusätzliche 1,5 Milliarden Euro für eine optimierte Planung des vierspurigen Ausbaus der Strecke – nachdem zuvor mehr als 170 000 Einsprüche gegen die Pläne eingelegt wurden, in erster Linie aus Sorge um die Lärmbelastung.

So dürften Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Verkehrsminister Dobrindt am 1. Juni auch mit ein bisschen schlechtem Gewissen an der Eröffnungsfeier des Gotthard-Basistunnels teilnehmen, zu der sich mit François Hollande, Matteo Renzi, Christian Kern und Adrian Hasler auch die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Italien, Österreich und Liechtenstein angekündigt haben. In Sachen Bahnverkehr und Bürgerbeteiligung hat Deutschland noch Nachholbedarf gegenüber dem kleinen Nachbarn – dem Vorbild Schweiz.