Das fortschrittlichste Serienauto, das jemals in Baden-Württemberg gebaut wurde, wird ein halbes Jahrhundert alt. Der NSU Ro 80 war seiner Zeit weit voraus, noch heute hat er treue Fans – auch in Stuttgart.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Neulich stand Walter Frieß, 63, in der Stadt vor einer roten Ampel, als ein Wildfremder an seine Fahrerscheibe klopfte und schrie: „Mensch, was haben Sie denn für eine geile Karre?“ Diese kernige Reaktion verblüffte Frieß dann doch, obwohl seine Nachbarn in Stuttgart-Sonnenberg ja auch sofort freudig herbeigesprungen waren, als er zum ersten Mal seinen altlantikblauen Exoten in der Einfahrt geparkt hatte. „Wo man mit diesem Wagen auftaucht, fliegen einem die Herzen zu“, sagt er.

 

Vor 50 Jahren, am 22. August 1967, präsentiert NSU eine technische Revolution: den Ro 80. „Als Ort der Pressevorstellung war das Schloß Solitude gewählt worden“, berichtet die Stuttgarter Zeitung damals, „und so waren Rennstrecke, Autobahn und enge, kurvige Landstraßen dicht beieinander.“ Beschleunigung, Federung, Bremsen – alles tadellos, schwärmt der Autor nach der Testfahrt: „Die Laufruhe des Wankelmotors ist bestechend.“

Als kurz darauf in Frankfurt die Internationale Automobilausstellung beginnt, düpiert NSU, ein ehemaliger Fahrrad- und Mopedproduzent aus Neckarsulm, mit seiner Neuentwicklung die etablierte Konkurrenz. Allein der Antrieb: Während sich üblicherweise die Kolben auf und ab quälen, saust im Ro 80 ein dreieckiger Rotor im Kreis herum. Das nach seinem Erfinder Felix Wankel benannte Aggregat läuft fast vibrationsfrei und ist so kompakt, dass es unter eine flache Motorhaube passt, was wiederum eine aerodynamische Karosserie ermöglicht. Neben dem futuristischen Wunderwerk vom Neckar wirken die Modelle von der Isar (BMW 1600 GT), vom Rhein (Ford 17 M) und vom Main (Opel Olympia) schon bei ihrer Premiere wie von gestern. Die Fachwelt kürt den Ro 80 zum Auto des Jahres, für das Volk ist er ein Traumwagen, der so viel kostet wie ein Mercedes 230 S.

Launenhafte Diva

Die Euphorie verebbt, als das neue Objekt der Begierde als Serienfahrzeug über die Straßen rollt. Architekten, Ingenieure oder Anwälte lassen sich zu dem Lustkauf verführen, die Werbung verspricht ihnen Hochtechnologie: „Die Laufflächen des Motormantels sind aus Nickel mit mikroskopisch eingelagerten Siliziumkarbidkörnern.“ Doch das 115 PS starke Ro-80-Herz leidet unter Rhythmusstörungen, schon bald müssen in NSU-Werkstätten so häufig Motoren ausgetauscht werden wie anderswo Zündkerzen. Besitzer der launenhaften Diven begrüßen sich mit ausgestreckten Fingern und zeigen damit ihren Leidensgenossen, wie viele Wankelmotoren bei ihrem Exemplar bereits den Geist aufgegeben haben.

Walter Frieß kennt diese Anekdoten, er hält sie nicht für erfunden, aber doch für maßlos übertrieben. „Es ist grundsätzlich normal, dass es bei einem völlig neuartigen Motor anfangs Probleme gibt“, sagt er. „Die späteren Baujahre waren absolut in Ordnung, aber da war der Ruf schon ruiniert.“ Frieß ist ein Experte, 33 Jahre lang entwickelte er in Untertürkheim Dieselaggregate (nebenbei: Auch Mercedes-Benz experimentierte einst im legendären Sportwagen C 111 mit dem Wankelmotor). 2014, als er in Altersteilzeit ging, beschloss Frieß, sich einen Oldtimer anzuschaffen. Es sollte eines jener Modelle sein, die ihn in seiner Jugend begeistert hatten. Ein 280 SL Pagode oder ein Citroën SM kamen nicht infrage, viel zu teuer. Aber 14 500 Euro für einen restaurierten NSU Ro 80 waren drin.

Wie es sich für einen Ingenieur gehört, reicht es Frieß nicht, seinen Oldtimer zu fahren, zu hegen und zu pflegen, er will ihn auch bis ins kleinste Detail verstehen. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Prospekte, Fachbücher und technische Zeichnungen. Frieß erläutert gerne, wie Unterdruckzylinder, Ein-Scheiben-Trockenkupplung oder hydraulischer Drehmomentwandler funktionieren. Und er nimmt den Reporter nach der Theoriestunde bereitwillig mit auf eine Spritztour durch Stuttgart, in „einem der interessantesten Fahrzeuge der deutschen Nachkriegsgeschichte“, wie er sagt.

Ungewöhnliches Getriebe

Es ist irre heiß, was für Fahrer und Beifahrer unangenehm, aber für den Wankelmotor günstig ist, denn Kaltstarts mag er nicht so gerne. Frieß packt noch ein paar Flaschen Sprudel ein – ohne Klimaanlage droht hinter den riesigen Scheiben ein Flüssigkeitsverlust wie in einer finnischen Sauna. Das Getriebe ist, wie fast alles am Ro 80, speziell: Die Selektivautomatik wird zwar geschaltet, aber ohne dabei per Fußpedal zu kuppeln. Der erste Gang liegt unten links, Frieß legt ihn mit Fingerspitzengefühl ein, die pneumatische Kupplung reagiert auf die zarte Berührung des Schaltknüppels. Ab geht’s in den Talkessel.

Normalerweise ist die Buswendeplatte am Schlossplatz für Privatfahrzeuge tabu, doch ein Foto in Stuttgart-City-Kulisse kann eben nur geschossen werden, wenn man die Straßenverkehrsordnung großzügig auslegt. Nach dem Shooting parkt Frieß vor dem Württembergischen Landesmuseum, was zwar ebenfalls illegal, aber wissenschaftlich zu rechtfertigen ist, denn der Ro 80 ist ein schwäbisches Kulturgut. Etwa 600 fahrbereite Exemplare gibt es weltweit noch, deshalb ist es ein großer Zufall, dass ein Unbekannter herbeieilt und behauptet: „Ich fahre seit Langem Ro 80, bin quasi mit dem Auto verwachsen.“

Der vorwitzige Herr trägt einen Strohhut und stellt sich als George Burden vor, 78 Jahre alt, Engländer, emeritierter Professor für Industriedesign. 1972 fand Burden seine große Liebe: „Als ich den Ro 80 zum ersten Mal Probe gefahren war, wusste ich, dass dieser Wagen für mich geschaffen ist.“ Burden kaufte sich einen orangefarbenen Ro 80 und behielt ihn, bis er bei Kilometerstand 680 000 zu zicken begann. Dazwischen lagen unzählige Arbeitsfahrten von Stuttgart nach Schwäbisch Gmünd, wo Burden an der Fachhochschule lehrte, sowie zig Urlaubstouren mit der Gattin, den Kindern und dem Dalmatiner nach Dänemark, Elba und sonst wohin. Heute lebt er von seiner Frau getrennt, die Kinder sind längst aus dem Haus, und der ist Hund tot – nur sein Lieblingsauto begleitet ihn noch immer treu durch den Alltag. Mittlerweile fährt Burden einen atlasweißen Ro 80, Baujahr 72.

„Sind Sie auch Mitglied im Ro-80-Club?“, fragt Frieß. – „Nee, ich bin kein Vereinsmeier“, antwortet Burden. Daraufhin referiert Frieß: Wir sind kein normaler Verein, vielmehr ein Bündnis von Feingeistern, die im Ro 80 nicht bloß ein motorisiertes Fortbewegungsmittel sehen, sondern eine künstlerische Installation und ein technisches Meisterwerk. Zudem funktioniert die Ersatzteilversorgung über den Club hervorragend. Burden ist beeindruckt, man tauscht Visitenkarten. Vielleicht besucht der Vereinsmuffel im Herbst sogar das Jubiläumstreffen des Ro-80-Clubs auf Schloss Solitude und parkt sein leicht rostiges Schätzchen neben Dutzenden top gepflegten Artgenossen.

Das Ende des Wunderwerks

Wohl nichts prägt die Ästhetik unserer Zeit so sehr wie das Automobil, und der Ro 80 zählt zweifellos zu den Blechskulpturen des 20. Jahrhunderts, die die Formensprache geprägt haben. Stellt man ihn neben einen aktuellen Audi A4, eine C-Klasse von Mercedes oder einen Dreier-BMW, fällt auf, dass sich beim Design im vergangenen halben Jahrhundert weniger verändert hat, als man gemeinhin annimmt. „Der Ro 80 war seiner Zeit weit voraus“, sagt der Industriedesigner Burden. „Der Markt und die Gesellschaft waren damals aber noch nicht reif für dieses Fahrzeug.“

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wandelt sich die deutsche Automobilbranche. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg gehen die Produktionszahlen zurück. Die Benzinpreise sind gestiegen, die Kilometerpauschale wurde erhöht, die Versicherungsprämie auch. Otto Normalfahrer steigt auf Kleinwagen um, Fiat verkauft hierzulande plötzlich so viele Autos in einer Woche wie zuvor in einem Monat. Auf der anderen Seite gibt es jene, die ihren Wohlstand weiterhin mit einem Stern auf der Kühlerhaube demonstrieren wollen. Nur ein paar Avantgardisten entscheiden sich für den bis zu 24 000 Mark teuren Ro 80 und stören sich auch nicht an dem Verbrauch von rund 15 Litern auf hundert Kilometer. Zumindest, bis 1973 die erste große Ölkrise ausbricht.

Drei Jahre später, nach gerade mal 37 398 Exemplaren, stellt die Audi NSU AG (beide Unternehmen fusionierten 1969) die Fertigung des schluckfreudigen Mittelklassewagens ein. „Wunderwerke bestaunt man, man benutzt sie nicht“, schreibt die „Zeit“ in einem Nachruf auf den Ro 80 – nicht ahnend, dass wahre Autokenner wie Walter Frieß und George Burden noch Jahrzehnte später das wankelmütige Wunderwerk für kurze und lange Strecken nutzen. Da kann man bloß staunen.