Da ich als Neu- und Quereinsteiger natürlich nicht über die nötige Bildung und geistige Spannweite verfügte, um etwa Gödels Unentscheidbarkeitstheorem so auf die Schnelle mit Kafkas Tagebüchern und Kurt Georg Kiesinger in Verbindung bringen zu können, musste ich dem rein dramaturgischen Aspekt des Geschehens zwangsläufig mehr Bedeutung zumessen, als es in sachlicher Hinsicht wohl erlaubt ist. Jedenfalls wurde ich Zeuge eines durch Selbstinduktion gestarteten und sich rasch in erkenntnistheoretische Gewitterzonen hochschraubenden Einmannstückes, dessen Sprache allerdings mit einer Vielzahl sehr spezieller Ausdrücke durchsetzt war. Um die hohe Emission von Namen und Begriffen einigermaßen in den Griff zu bekommen, wurde endlich die riesige Wandtafel in Betrieb genommen. Ich sage, in Betrieb genommen, denn was sich auf dieser schwarzgrauen Fläche in 90 Minuten abspielte, bedeutete die Ausschöpfung ihrer sämtlichen Möglichkeiten. Anders als den antiken Peripatetikern stand Bense bei seinem gehenden Denken oder denkenden Gehen ja keine Wandelhalle zur Verfügung, sondern lediglich der schmale Schlauch zwischen Tafel und vorderster Sitzreihe, der sich auf seine Gesamtmotorik natürlich beschleunigend auswirkte. Der einzige Ort, an dem der motorische Überschuss in produktiver Weise abgebaut werden konnte, war nun eben dieses höhenverstellbare Rechteck. Bense griff also irgendwann zur Kreide und begann, die seinen Kopf großzügig einrahmende Fläche von einer beliebigen Stelle aus zu annektieren. Das winzige Notizbuch diente dabei als Navigationshilfe. Die aus dem Handgelenk herausgedrehten Zeichen bestanden nun keineswegs bloß aus Buchstaben und Zahlen, sondern aus allem, was sich mit Hilfe eines Stücks Kreide hervorbringen lässt. Ich erinnere mich neben allerlei Worten, Zahlen, Kürzeln an gerade, eckige, punktierte, sägezahnartige Linien; an Dreiecke, Rechtecke, Vielecke und sich nach allen Seiten wie Astwerk oder Eisblumen ausbreitende Liniengerüste; an komplexe Kurven und Schraffuren; an gezeichnete Blätter und Gesichtsprofile; an Piktogramme, Diagramme, Seismogramme, an Tabellen, Schleifen und seltsame Formeln für dies und das. Vor allem an gleichseitige Dreiecke mit der Spitze nach oben. Ja, es waren diese Dreiecke, die alles zusammenzuhalten schienen. An ihren Spitzen saßen zumeist Buchstaben wie M, O und I oder seltsame Kürzel wie Rhe, Dic und Ag. Und von ihnen zweigten oft weitere Linien ab, Torpedofächer, die im Prinzip auf alles Mögliche hinzielen konnten: auf weitere Kürzel, auf Zahlenpaare mit Punkt dazwischen, auf Blätter und Schiffe, Bambus und Plutonium, auf weitere Dreiecke mit weiteren Verzweigungen und Abkürzungen.Mindestens ebenso wie die Zeichen selbst faszinierten mich die Umstände ihrer Hervorbringung. Das ein aus der körperlichen Bewegung heraus geführter Diskurs zu anderen Denkfiguren führen muss als ein am Schreibtisch fürs Vorlesepult produzierter Text, versteht sich von selbst. Dass aber solche der Bewegung abgerungenen Denkfiguren neben ihrer sprachlichen fast im selben Moment eine visuelle Gestalt annehmen konnten – diese Beobachtung hat mich so beeindruckt, dass ich bis heute nicht von der Idee loskomme, es könne so etwas wie eine abstrakte philosophische Notation geben, die sich, ohne je die klassische Form eines Textes anzunehmen, direkt in gesprochene Sprache verwandeln ließe – eine Lingua Bense.