Von der Vielfalt und emotionalen Wucht vieler Dokumentationen war die STZ-Leserjury beim SWR-Doku-Festival freudig überrascht. Und hat sich dann für eine kritische Nahaufnahme des Kapitalismus entschieden.

Stuttgart - Manche Filme hätte man nie für möglich gehalten. So einer hat beim viertägigen SWR-Doku-Festival gerade den mit 20 000 Euro dotierten Deutschen Dokumentarfilmpreis gewonnen, Talal Derkis „Of Fathers and Sons“. Der syrische Regisseur ist in eine Region seiner Heimat zurückgekehrt, die von Islamisten gehalten wurde. Um Zugang zu den Kämpfern dort zu erhalten, hat er sich als Berichterstatter mit Sympathien für den Heiligen Krieg ausgegeben. So kann er Bilder liefern, die es noch nie zu sehen gab: vom kinderreichen Familienleben von Menschen, die ihre Kinder zu Märtyrern und Halsabschneidern erziehen.

 

Einen anderen Wettbewerbsbeitrag hätte man zwar für möglich gehalten, zugleich aber wohl pessimistisch vermerkt, dieses Thema möchten alle lieber verdrängen. Die Jury des StZ-Leserpreises (4000 Euro) hat sich aber trotzdem für „System Error“ von Florian Opitz entschieden. Der lässt Befürworter des Kapitalismus, Börsianer und Wirtschaftskapitäne etwa, ihren Glauben ans endlose Wachstum auf einem endlichen Planeten erklären – und schneidet die Thesen und Prognosen von Karl Marx gegen diese aktuellen Glaubenssätze der Weltwirtschaft.

Die StZ-Leser und Karl Marx

Die vier Leserinnen und zwei Leser der StZ-Jury – Salima Hanle-Schaller, Günter Hornung, Rainer Schneider, Daria Schulz, Dorothea Ufer und Eva-Maria Waas – wollen „System Error“ anderen Menschen ans Herz legen und begründen ihre Entscheidung so:

„,System Error’ zeigt klar und deutlich, wie aktuell doch der Spruch von Karl Marx heute ist: ,… und nach uns die Sintflut…’ Und Florian Opitz zeigt, wohin grenzenloses Wachstum führt - in ungewöhnlichen und erschreckenden Perspektiven aus aller Welt. Sei es auf der Rinderfarm in Mato Grosso oder auf dem Flughafen von Peking, bei den Konzernmanagern und Investoren – überall herrscht offensichtlich kein Gefühl für das mögliche Ende – egal, ob Umwelt, Mensch oder Tier darunter leiden. Der Regisseur bringt seine Interviewpartner dazu, in schonungsloser Offenheit ihre Überzeugungen darzulegen. Ohne erhobenen Zeigefinger wird uns auch durch beeindruckendes Archivmaterial vor Augen geführt, was uns erwartet, wenn dieser Wahnsinn so weitergeht. Die Welt gibt es nur einmal.“

Es gab auch noch andere Preise

Den Norbert-Daldrop-Preis (5000 Euro) hat „The Poetess“ von Andreas Wolff und Stefanie Brockhaus gewonnen. Erzählt wird die Geschichte der saudischen Dichterin Hissa Hilal, die an einer im ganzen arabischen Raum höchst beliebten TV-Talentshow für Dichter die Männerherrschaft anklagte, die Doppelmoral und die Verfinsterung der Gesellschaft durch Tyrannei und Terror der Islamisten.

Den Förderpreis des Hauses des Dokumentarfilms (3000 Euro) erhielt „Shut up and play the Piano“ von Philipp Jedicke. Er präsentiert den Musiker Chilly Gonzales, der sich als Kunstfigur in Szene setzt, mal als impulsgetriebenen Wüterich, mal als gedankenzerfressenen Melancholiker, der mit Rappern ins Studio und mit klassischen Orchestern auf die Bühne geht. Und den neu geschaffenen Preis der Opus GmbH für Musikfilme (5000 Euro) hat „The Potential of Noise – Conny Plank“ gewonnen. Für den Regisseur Stephan Plank, Jahrgang 1974, stellte der Film auch die Suche nach dem eigenen Vater dar, einem 1987 verstorbenen Produzenten, Toningenieur und Musiker, der eine zentrale Figur der avantgardistischen Krautrock-Szene war.

Beinahe nicht gekommen

Die Bandbreite der Themen und Stile und die emotionale Wucht vieler Beiträge könnte also größer nicht sein als bei diesem Festival. Was fraglos noch wachsen kann, sind die Besucherzahlen. Vor allem tagsüber waren von Mittwoch bis Samstag in den Metropol-Kinos viele Plätze frei. Zwar gaben auch die Mitglieder der StZ-Leserjury freimütig zu, unter normalen Umständen wohl gar keine Dauerkarte erworben zu haben. Aber im Rückblick werten das alle als Fehleinschätzung: „Da hätten wir wirklich ganz Tolles verpasst“, sagte die Jury-Sprecherin Daria Schulz und sprach auch damit übertreibungsfrei für alle.